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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0085
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70 Morgenröthe

Er überredete ein menschliches Weib, daß es ihm einen Sohn gebäre: und die-
ser Sohn Gottes rieth den Menschen nichts als dies: ,liebt Gott! wie ich ihn
liebe! Was gehen uns Söhne Gottes die Guten und Gerechten an!' [...] Wahrlich
diese Guten und Gerechten sind verderblich der Lust am Leben, und nicht nur
alten rechtschaffenen Göttern. / ,Dreierlei soll stets bei uns sein - so sagten
sie immer - die Wahrheit, das Geld und die Tugend: also lieben wir Gott'. /
,Auserwählte sind wir, und auf der Erde die Überirdischsten'." Im Zarathustra
bildet die Rede von den „Guten und Gerechten" ein Grundmotiv der vom im-
moralistischen Standpunkt aus formulierten Moralkritik. Schon in Za „Vorrede"
) flüstert ein „Possenreißer" Zarathustra ins Ohr: ,„Geh weg von dieser Stadt,
oh Zarathustra, sprach er; es hassen dich hier zu Viele. Es hassen dich die
Guten und Gerechten und sie nennen dich ihren Feind und Verächter; es has-
sen dich die Gläubigen des rechten Glaubens, und sie nennen dich die Gefahr
der Menge'." (KSA 4, 23, 18-23) „Räuber will Zarathustra den Hirten heissen. /
Hirten sage ich, aber sie nennen sich die Guten und Gerechten. Hirten sage
ich: aber sie nennen sich die Gläubigen des rechten Glaubens. / Siehe die Gu-
ten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln
der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: - das aber ist der Schaffende. / Siehe
die Gläubigen aller Glauben! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht
ihre Tafeln und Werthe, den Brecher, den Verbrecher: - das aber ist der Schaf-
fende." („Vorrede" 9, KSA 4, 26, 1-11). Dementsprechend heißt es in Zarathustra
I: ,Vom Wege des Schaffenden': „Und hüte dich vor den Guten und Gerechten!
Sie kreuzigen gerne Die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden, - sie hassen
den Einsamen." (KSA 4, 82, 6-8). In dem Zarathustra-Kapitel ,Vom Biss der
Natter' antwortet Zarathustra seinen Jüngern auf ihre Fragen: „Den Vernichter
der Moral heissen mich die Guten und Gerechten: meine Geschichte ist unmo-
ralisch." (KSA 4, 87, 19 f.) Vgl. auch das Zarathustra-Kapitel ,Vom freien Tode'
(KSA 4, 95, 9-11), Zarathustra II: ,Von den Taranteln': „Und wenn sie sich selber
,die Guten und Gerechten' nennen, so vergesst nicht, dass ihnen zum Pharisäer
Nichts fehlt als - Macht!" (KSA 4, 129, 27-29). In Zarathustra III beginnt der
Abschnitt 26 mit den Worten: „Oh meine Brüder! Bei Welchen liegt doch die
grösste Gefahr aller Menschen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerech-
ten? - / - als bei Denen, die sprechen und im Herzen fühlen: ,wir wissen schon,
was gut ist und gerecht, wir haben es auch; wehe Denen, die hier noch su-
chen!'" (KSA 4, 265, 26-266, 3). Auf die Fortsetzung: „Den Schaffenden has-
sen sie am meisten: den, der Tafeln bricht und alte Werthe, den Brecher - den
heissen sie Verbrecher" (266, 21-23) folgt in Abschnitt 27 auf die pointierend
wiederholte rhetorische Frage: „Bei Welchen liegt die grösste Gefahr aller Men-
schen-Zukunft? Ist es nicht bei den Guten und Gerechten? -" die emphatisch
hervorgehobene paronomastisch auf den „Brecher" und „Verbrecher" zurück-
 
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