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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0100
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 20 85

dem „schwer zu besiegenden, weil durch tausendjährige Vererbung mächtig
gewordenen Nachhall und Nachklang jener endlos langen Zeiten, in welchen
der langsam aus dem Schooße thierischer Vergangenheit sich losringende und
allmälig zu seinem Bewußtsein als Mensch vordringende Vorfahr unsres Ge-
schlechts ein dumpfes, von den ihm unbegreiflichen und unbegriffenen Natur-
Mächten halb erdrücktes Dasein geführt hatte. Dieses unbestimmte Gefühl der
Furcht vor unbekannten und durch Geheimniß [d. h.: mangels naturwissen-
schaftlicher Erklärungen] furchtbaren Ueber-Mächten, gegen welche es keinen
Widerstand gab, hat denn im Laufe der Zeiten Anlaß zur Entstehung jener ganz
unnatürlichen Abgötterei gegeben, welche so vieles Elend über die Menschheit
gebracht hat, und von welcher schon der Römer Lukretius Carus in seinem
berühmten Lehrgedicht so treffend sagt: ,0 unseliges Geschlecht der Sterbli-
chen, das solche Dinge den Göttern zuschrieb und ihnen den erbitterten Zorn
andichtete! Welchen Jammer haben sie da über sich selbst, welche Wunden
über uns, welche Thränen über unsre Nachkommen gebracht!'" (Büchner 1876,
158) Dem Kapitel „Die Gottes-Idee" stellt er ein auf Lukrez zurückweisendes
Zitat aus Petronius voran: „Primus in orbe Deos fecit timor" (Büchner 1876,
261, „Zuerst hat die Furcht in der Welt Götter geschaffen"). Die eigentliche
Quelle ist aber Publius Papinius Statius: Thebais III, 661.
Das von N. während der Entstehung der Morgenröthe immer wieder be-
nutzte Werk von Georg Gustav Roskoff: Das Religionswesen der rohesten Natur-
völker (1880), bezieht sich auf die Feststellungen zum Verhältnis von Religion
und Furcht in dem von N. ebenfalls herangezogenen Werk des damals bekann-
ten Ethnologen John Lubbock: Die Entstehung der Civilisation und der Urzu-
stand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben
der Wilden (1875). Roskoff beruft sich auf einen Satz aus dem von ihm selbst
verfassten Standardwerk Geschichte des Teufels (dort: Roskoff 1869, Bd. I, 20)
mit folgenden Worten: „Dass ,ein blosses Furchtgefühl' nicht für Religion gel-
ten könne, halte ich auch für unbestreitbar und stehe nicht an, den von mir
aufgestellten Satz: ,Furcht ist nicht nur die Mutter der Weisheit, sondern auch
der Religion', genauer zu fassen: Furcht ist das primitive, wesentlich vorwie-
gende Gefühl, welches die rohen religiösen Vorstellungen begleitet" (Roskoff
1880, 84). Mit der Verbindung von Weisheit und Furcht im Hinblick auf die
Religion spielt Roskoff auf die biblischen Sprüche Salomonis an: „Die Furcht
des Herrn ist der Weisheit Anfang" (Spr. 9, 10).
Die Befreiung von der abergläubischen Furcht vor „unseren Träumen" war
bei den Griechen ein Thema, das wahrnehmungstheoretisch und physiologisch
erörtert wurde, so von Aristoteles in seinen Schriften Über die Seele, Über Träu-
me, Über Traum-Weissagung und von Artemidoros von Daldis: Oneirokritikön
(,Analyse der Träume', BUB).
 
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