86 Morgenröthe
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20, 17 Der Taschenspieler und sein Widerspiel.} Dieser Text knüpft
an Einsichten an, die N. in dem von ihm intensiv benutzten Handbuch der
Moral von Johann Julius Baumann (NPB) fand. Exemplifiziert hatte Baumann
die von der „Wissenschaft" ad absurdum geführte Annahme „einfacher Causa-
litäten" zugunsten „sehr complicirter" Vorgänge an der Willenstheorie. Diese
wurde von N. wie von vielen Zeitgenossen mit naturalistischer Absicht letztlich
gegen Vorstellungen von einer geistig-,moralischen' Autonomie formuliert, die
auf oberflächlichen Meinungen über den „Willen" basiert. Programmatisch
hatte Baumann für sein Werk ein „psychologisch-physiologisches" Erklärungs-
muster entwickelt. Einer in diesem Sinne angelegten Willenstheorie wies er
schon am Anfang seines Werks eine grundlegende Bedeutung zu. Er erklärte,
erforderlich seien „zum effektiven Wollen [...] eine ganze complicirte Reihe von
Muskelbewegungen", von „Bewegungen [...], welche durch die Nerven in den
Muskeln veranlasst werden". Oft halte man noch trotz der von der modernen
Wissenschaft auf dem Gebiet der „physiologischen Psychologie" gewonnenen
Erkenntnisse an der Meinung fest, dass der ,Wille', der eine Handlung bewirkt
(Baumann spricht vom „effektiven Wollen"), einen rein geistigen Grund habe,
während es sich doch um „physiologische Processe" handle (Baumann 1879,
4 f.). Baumanns Grundthese lautet deshalb: „Der Wille - das steht uns fest -
ruft ursprünglich nichts hervor" (Baumann 1879, 74), denn eigentlich „gelingt
uns willkürlich zunächst blos, was sich ursprünglich unwillkürlich einstellte
von Vorstellen, Fühlen, Bewegungen oder Combinationen solcher" (Baumann
1879, 38). Mit ausdrücklichem Bezug auf Baumann schloss sich N. diesem Er-
klärungsmuster in einem nachgelassenen Notat vom Frühjahr 1883 an (7[254],
KSA 10, 320). In der Fröhlichen Wissenschaft (FW 127) führt N. den in M 6 for-
mulierten Gedanken, der hier noch ganz allgemein für alle möglichen Arten
der „Causalität" entwickelt wird, weiter aus, indem er ihn nun auf die ver-
meintliche Kausalität des Willens bezieht: „Jeder Gedankenlose meint, der Wil-
le sei das allein Wirkende; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes,
Unableitbares, An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut,
zum Beispiel einen Schlag ausführt, er sei es, der da schlage, und er habe
geschlagen, weil er schlagen wollte. [...] Von dem Mechanismus des Gesche-
hens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss, damit
es zum Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch
nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille ist
ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen, als an die Ursache
von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte" (KSA 3, 482, 14-
28; vgl. auch JGB 19).
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20, 17 Der Taschenspieler und sein Widerspiel.} Dieser Text knüpft
an Einsichten an, die N. in dem von ihm intensiv benutzten Handbuch der
Moral von Johann Julius Baumann (NPB) fand. Exemplifiziert hatte Baumann
die von der „Wissenschaft" ad absurdum geführte Annahme „einfacher Causa-
litäten" zugunsten „sehr complicirter" Vorgänge an der Willenstheorie. Diese
wurde von N. wie von vielen Zeitgenossen mit naturalistischer Absicht letztlich
gegen Vorstellungen von einer geistig-,moralischen' Autonomie formuliert, die
auf oberflächlichen Meinungen über den „Willen" basiert. Programmatisch
hatte Baumann für sein Werk ein „psychologisch-physiologisches" Erklärungs-
muster entwickelt. Einer in diesem Sinne angelegten Willenstheorie wies er
schon am Anfang seines Werks eine grundlegende Bedeutung zu. Er erklärte,
erforderlich seien „zum effektiven Wollen [...] eine ganze complicirte Reihe von
Muskelbewegungen", von „Bewegungen [...], welche durch die Nerven in den
Muskeln veranlasst werden". Oft halte man noch trotz der von der modernen
Wissenschaft auf dem Gebiet der „physiologischen Psychologie" gewonnenen
Erkenntnisse an der Meinung fest, dass der ,Wille', der eine Handlung bewirkt
(Baumann spricht vom „effektiven Wollen"), einen rein geistigen Grund habe,
während es sich doch um „physiologische Processe" handle (Baumann 1879,
4 f.). Baumanns Grundthese lautet deshalb: „Der Wille - das steht uns fest -
ruft ursprünglich nichts hervor" (Baumann 1879, 74), denn eigentlich „gelingt
uns willkürlich zunächst blos, was sich ursprünglich unwillkürlich einstellte
von Vorstellen, Fühlen, Bewegungen oder Combinationen solcher" (Baumann
1879, 38). Mit ausdrücklichem Bezug auf Baumann schloss sich N. diesem Er-
klärungsmuster in einem nachgelassenen Notat vom Frühjahr 1883 an (7[254],
KSA 10, 320). In der Fröhlichen Wissenschaft (FW 127) führt N. den in M 6 for-
mulierten Gedanken, der hier noch ganz allgemein für alle möglichen Arten
der „Causalität" entwickelt wird, weiter aus, indem er ihn nun auf die ver-
meintliche Kausalität des Willens bezieht: „Jeder Gedankenlose meint, der Wil-
le sei das allein Wirkende; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes,
Unableitbares, An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut,
zum Beispiel einen Schlag ausführt, er sei es, der da schlage, und er habe
geschlagen, weil er schlagen wollte. [...] Von dem Mechanismus des Gesche-
hens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss, damit
es zum Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch
nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille ist
ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen, als an die Ursache
von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte" (KSA 3, 482, 14-
28; vgl. auch JGB 19).