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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0115
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100 Morgenröthe

lang in die Einöde, von allen Menschen abgesondert in tiefsinnigen Betrach-
tungen zubringen [...]. Durch die Entziehung des menschlichen Umgangs,
durch das Fasten und Abmatten des Leibes und durch das steife Anstrengen
der Gedanken kommt endlich die Einbildungskraft des Grönländers in eine Un-
ordnung, dass sich ihm allerlei Bilder von Menschen, Thieren und Abenteuern
vorspiegeln, die er für wirkliche hält, weil er an nichts als an Geister denkt
und sein Leibesgebäude zugleich in grosse Unordnungen und Verzückungen
geräth, die er sorgfältig zu unterhalten und zu vermehren sucht [...]. Durch
Fasten in der Einsamkeit kommt der nordamerikanische Indianer zu seiner
,Medizin', d. h. zu seinem persönlichen Schutzgeist [...]. In Brasilien musste der
Jüngling, der ein Paje werden wollte, allein auf einen Berg steigen oder an
einen einsamen Platz gehen und daselbst zwei Jahre lang unter strengem Fas-
ten verweilen [...]. Bei den Abiponern unterzogen sich die künftigen Keebets
einer ähnlicher Vorbereitung. Nach Dobrizhoffer [II, 91] sollen diejenigen, wel-
che ,zur Wissenschaft des Zauberns und zu der Zauberwürde gelangen wollen,
sich auf eine bejahrte Weide, welche in einen See hinausgeht, setzen und sich
einige Tage aller Speise enthalten'. Dieses Fasten in der Einsamkeit, das sich
der Wilde, der sich zum Amte der Zauberei berufen fühlt, selbst auflegt, ist
dem Wesen nach eigentlich ein Opfer an der eigenen Persönlichkeit, um da-
durch die Einheit mit der übersinnlichen Macht zu erstreben und durch sie das
Gewünschte zu erreichen." (Roskoff 1880, 156-159; Nachweis: Orsucci 1996)

15
28, 30 Die ältesten Trostmittel.] Im Rückgang auf „älteste" Formen ver-
sucht N., wie auch in anderen Kurztexten der Morgenröthe, die Psychologie
,moralischer' Vorstellungen (u. a. „Strafe", „Sühnung", „Schuld") subversiv zu
analysieren. Vgl. Μ 202, besonders zu „Strafe" und „Schuld", sowie den ent-
sprechenden Kommentar.

16
29, 11 Erster Satz der Civilisation.] Dieser Text steht mit dem Leitthema
und mit der abschließenden Formulierung „des grossen Satzes, mit dem die
Civilisation beginnt" unter dem Eindruck des Werks von John Lubbock. Es gilt
den Anfängen der „Civilisation" und den menschlichen Urzuständen, die sich
seines Erachtens noch an den „Wilden" studieren lassen - das signalisiert be-
reits der Titel: Die Entstehung der Civilisation und der Urzustand des Menschen-
geschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Leben der Wilden (1875).
 
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