Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 29-30 103
Μ 144 formuliert. In Μ 221 leitet er daraus die „Moralität des Opfers" ab:
„Die Moralität, welche sich nach der Aufopferung bemisst, ist die der halbwil-
den Stufe. Die Vernunft hat da nur einen schwierigen und blutigen Sieg inner-
halb der Seele, es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen; ohne eine Art
Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kanibalische Götter verlangen, geht
es dabei nicht ab". In M 18 geht N. von der auch in anderen Texten, so schon
in Μ 5 im Hinblick auf Epikur und Lukrez übernommenen These aus, dass die
Menschen ursprünglich noch in beständiger Bedrohung und Furcht lebten -
es ist von der „kleinen, stets gefährdeten Gemeinde" die Rede (30, 6 f.). Des-
halb, so folgert N. hier, bedurften sie einer entlastenden Kompensation im „Ge-
nuss der Grausamkeit". Von dieser psychischen Reaktionsbildung der Men-
schen habe man auf die Grausamkeit der Götter geschlossen, die man deshalb
durch Schauspiele der Grausamkeit, insbesondere durch Opferrituale gnädig
stimmen wollte: „Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Mensch-
heit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt,
wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet" (30, 15-18).
In GM II 7 führt N. diesen Gedankengang fort: „Jedes Übel ist gerechtfer-
tigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut': so klang die vorzeitliche Logik
des Gefühls - und wirklich, war es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde
grausamer Schauspiele gedacht - oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung
selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein! [...] Gewiss ist je-
denfalls, dass noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere Zukost
zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit wel-
chen Augen glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der
Menschen niederblicken liess?" (KSA 5, 304, 21-31) In Spencers Thatsachen der
Ethik heißt es entsprechend: „Alle niedriger stehenden Glaubensbekenntnisse
sind von der Überzeugung durchdrungen, dass der Anblick des Leidens für die
Götter eine Freude sei: Da diese Götter sich von blutdürstigen Vorfahren herlei-
ten, so hat sich ganz naturgemäss die Vorstellung von ihnen herausgebildet,
als ob sie ein Vergnügen daran fänden, Jemand Schmerzen zuzufügen: als sie
noch in diesem Leben herrschten, freuten sie sich der Qualen anderer Wesen,
und so glaubt man, der Anblick des Leidens mache ihnen jetzt noch Freude"
(Spencer 1879, 31). Auch den nächsten Gedankenschritt N.s, denjenigen von
der Freude an der gegenüber anderen verübten Grausamkeit zu der Grausam-
keit, die der Mensch gegenüber sich selbst zeigt, indem er freiwillig Leiden und
Martern auf sich nimmt („und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt,
dass das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten Sinn
und Werth habe"; 30, 18-21) - auch mit diesem Gedankenschritt, der den gan-
zen weiteren Text bestimmt, schließt sich N. Spencer an. Dieser fährt fort: „In
unsern Tagen freilich haben solche Ansichten zweifellos mildere Formen ange-
Μ 144 formuliert. In Μ 221 leitet er daraus die „Moralität des Opfers" ab:
„Die Moralität, welche sich nach der Aufopferung bemisst, ist die der halbwil-
den Stufe. Die Vernunft hat da nur einen schwierigen und blutigen Sieg inner-
halb der Seele, es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen; ohne eine Art
Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kanibalische Götter verlangen, geht
es dabei nicht ab". In M 18 geht N. von der auch in anderen Texten, so schon
in Μ 5 im Hinblick auf Epikur und Lukrez übernommenen These aus, dass die
Menschen ursprünglich noch in beständiger Bedrohung und Furcht lebten -
es ist von der „kleinen, stets gefährdeten Gemeinde" die Rede (30, 6 f.). Des-
halb, so folgert N. hier, bedurften sie einer entlastenden Kompensation im „Ge-
nuss der Grausamkeit". Von dieser psychischen Reaktionsbildung der Men-
schen habe man auf die Grausamkeit der Götter geschlossen, die man deshalb
durch Schauspiele der Grausamkeit, insbesondere durch Opferrituale gnädig
stimmen wollte: „Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Mensch-
heit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt,
wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet" (30, 15-18).
In GM II 7 führt N. diesen Gedankengang fort: „Jedes Übel ist gerechtfer-
tigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut': so klang die vorzeitliche Logik
des Gefühls - und wirklich, war es nur die vorzeitliche? Die Götter als Freunde
grausamer Schauspiele gedacht - oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung
selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein! [...] Gewiss ist je-
denfalls, dass noch die Griechen ihren Göttern keine angenehmere Zukost
zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit wel-
chen Augen glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der
Menschen niederblicken liess?" (KSA 5, 304, 21-31) In Spencers Thatsachen der
Ethik heißt es entsprechend: „Alle niedriger stehenden Glaubensbekenntnisse
sind von der Überzeugung durchdrungen, dass der Anblick des Leidens für die
Götter eine Freude sei: Da diese Götter sich von blutdürstigen Vorfahren herlei-
ten, so hat sich ganz naturgemäss die Vorstellung von ihnen herausgebildet,
als ob sie ein Vergnügen daran fänden, Jemand Schmerzen zuzufügen: als sie
noch in diesem Leben herrschten, freuten sie sich der Qualen anderer Wesen,
und so glaubt man, der Anblick des Leidens mache ihnen jetzt noch Freude"
(Spencer 1879, 31). Auch den nächsten Gedankenschritt N.s, denjenigen von
der Freude an der gegenüber anderen verübten Grausamkeit zu der Grausam-
keit, die der Mensch gegenüber sich selbst zeigt, indem er freiwillig Leiden und
Martern auf sich nimmt („und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt,
dass das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten Sinn
und Werth habe"; 30, 18-21) - auch mit diesem Gedankenschritt, der den gan-
zen weiteren Text bestimmt, schließt sich N. Spencer an. Dieser fährt fort: „In
unsern Tagen freilich haben solche Ansichten zweifellos mildere Formen ange-