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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0122
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 32 107

darin das Gefühl seiner Auserwähltheit finden. N. macht seine eigene Leidens-
geschichte eben um dieser Selbsterhöhung willen nicht nur auf die christlichen
Märtyrer, sondern sogar auf die Passion Christi hin transparent. Er studierte zu
dieser Zeit ein Werk, das ihm der Freund Franz Overbeck aus seiner Bibliothek
auslieh: Das Christenthum Justins des Märtyrers von Moritz von Engelhardt
(1878). Für M 84 hat die Forschung eine Reihe von Übernahmen aus dieser
kirchengeschichtlichen Untersuchung nachgewiesen (vgl. hierzu den entspre-
chenden Kommentar). Wahrscheinlich hat N. auch eine übergreifende Vorstel-
lung aus der Einleitung dieses Buches hier in M 18 und schon in M 14 adaptiert.
Engelhardt berichtet, dass Tertullian den von ihm hochverehrten Justin als
„philosophus et martyr" bezeichnet habe. N. überträgt dieses Junktim von Phi-
losoph und Märtyrer auf sich selbst, indem er, darüber hinausgehend, sich
selbst aufgrund seines Philosophentums zum Märtyrer stilisiert. Endgültig voll-
zieht er diese Identifikation mit dem Märtyrertum in den später dann tatsäch-
lich im Zustand des gewünschten „Wahnsinns" unterschriebenen Episteln, die
er als „Der Gekreuzigte" unterzeichnete. Dazwischen liegt eine (Selbst-)War-
nung gerade vor einer solchen Selbststilisierung des Philosophen zum Märtyrer
in JGB 25 (KSA 5, 42 f.).
Thomas Mann adaptierte sowohl den selbstverordneten Wahnsinn wie das
Märtyrertum in seinem Doktor Faustus, dem er neben der Faust-Mythologie
auch eine mythologisierte Nietzsche-Biographie zugrundelegte. Wie „der frei-
willige Wahnsinn" in M 14 und dann noch einmal in M 18 den Durchbruch
zum Genial-Neuen ermöglichen soll, so lässt Thomas Mann Adrian Leverkühn,
den nach N. modellierten Protagonisten seines Faustus-Romans, „bewußt und
willentlich in Krankheit und Wahnsinn" gehen, wie es schon Naphta im Zau-
berberg verkündet, um dies als den „wahren Kreuzestod" zu preisen (im 6. Ka-
pitel des Abschnitts ,Operationes spirituales'). Und Leverkühn gerät am Ende
immer mehr in die Christus-Rolle hinein, auf die Naphta mit seinem Wort vom
„Kreuzestod" anspielt: in die Rolle desjenigen, der bewusst die enthemmende
tödliche Krankheit sucht, um den genialen „Durchbruch" aus der ausweglos
sterilen Situation der Zeit zu erreichen.
32, 1-13 Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird,
mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte" zu empfinden, wel-
che der „Weltgeschichte" vorausliegen, als die wirkliche und entschei-
dende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit
festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die
Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als
Tugend [...] der Wahnsinn als Göttlichkeit [...] in Geltung war!] Diese Ausführun-
gen gehen von der problematischen, schon seit dem 18. Jahrhundert bekannten
Unterscheidung einer vorhistorischen Zeit und einer historischen Zeit aus. Es
 
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