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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0125
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110 Morgenröthe

in zahlreichen Vortragsreisen sein Welt- und Menschenverständnis. 1874 hatte
er in den USA außerordentliche Erfolge mit über hundert Veranstaltungen in
über 30 Städten. Sein Buch Kraft und Stoff erschien bis 1904 in mehr als zwan-
zig Auflagen. N. steht in der Tradition dieser Bewegung, ohne direkt auf sie
einzugehen. Aber die von ihm immer wieder gewählte Plural-Form („wir",
„uns") verrät das Bewusstsein von dieser zeitgenössischen Aktualität. Der He-
rausgeber der 1876 erschienenen 14. Auflage konstatierte bereits eine französi-
sche Übersetzung in fünf Auflagen, englische, russische, spanische, italieni-
sche, holländische, schwedische, polnische, ungarische, rumänische und
deutsch-amerikanische Ausgaben (Büchner 1876, VIII). In Italien gab es schon
eine programmatische Freidenker-Zeitschrift. Ihr Herausgeber benachrichtigte
Ludwig Büchner von seinem Plan, dessen Buch ins Italienische zu übersetzen,
und bat ihn um ein Vorwort. Dieses druckte Büchner 1867 „statt eines Vor-
worts" in der neunten Auflage seines Werks ab. Er adressierte es an „Herrn
Stefanoni Luigi, / Herausgeber des Journals ,Der Freidenker' in Parma". Büch-
ner betonte in diesem Vorwort, es gehe nun ihm wie dem italienischen Mit-
kämpfer darum, „diesen Sieg der Wissenschaft über den alten Glauben und
Aberglauben zu vollenden", und zwar dadurch, dass er aus dem engeren Be-
reich der Wissenschaft in den einer allgemeineren „Volksbildung" hinausgetra-
gen werde (Büchner 1867, XC u. XCV). Dementsprechend fügte er dem Titel
seines Werks den programmatischen Zusatz bei: „In allgemein-verständlicher
Darstellung".
Der weitere Kontext von N.s Werk lässt erkennen, dass er die ursprüngliche
Bindung des Freidenkertums an das aufklärerische Vernunftprinzip suspen-
dierte.
Seine Hinwendung zum Begriff des „Freitäters" im vorliegenden Text (Μ
20) verrät eine Nähe zum ebenfalls aktuellen Anarchismus. Max Stirner hatte
einen strikt individualistischen Anarchismus propagiert. Bakunin, der mit
Wagner am Dresdner Mai-Aufstand von 1849 beteiligt war, schuf die erste in-
ternationale anarchistische Organisation, die eine soziale Revolution propa-
gierte und auch durch Taten (Attentate) hervortrat. N. ist zwar primär am An-
griff auf die moralischen Normen interessiert; durch seine Sympathie für die
„That" (33, 9) bis hin zum Verbrechen bringt er allerdings auch ein aktivisti-
sches Moment ins Spiel. Die zeitgenössische Aktualität eines bewussten, intel-
lektuell forcierten Normenbruchs, der zum Immoralismus und zum Anarchis-
mus tendiert, spiegelt sich auch in Dostojewskis Roman Prestuplenie i Nakaza-
nie (Verbrechen und Strafe, nicht ganz zutreffend auch Schuld und Sühne
übersetzt), der 1866 erschien. In seinem Mittelpunkt steht der Student Raskol-
nikow, der aber seiner eigenen Tat, dem Mord an einer alten Pfandleiherin,
nicht standzuhalten vermag, obwohl er ihn zunächst für ein „erlaubtes Verbre-
chen" hält.
 
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