Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 32 111
In einem im Sommer 1885 entstandenen Notat grenzt sich N. von den zeit-
genössischen Freidenkern entschieden ab: „Aber zu wem rede ich dies? Wo
sind denn diese freien Geister'? Giebt es denn ein solches ,unter uns'? - /
Ich sehe um mich: wer denkt, wer fühlt darin wie ich? Wer will, was mein
verborgenster Wille will? Aber ich fand Niemanden bisher [...] Wir neuen Philo-
sophen, wir Versuchenden, denken anders - und wir wollen es nicht beim
Denken bewenden lassen. Wir denken freier - vielleicht kommt der Tag, wo
man mit Augen sieht, daß wir auch freier handeln. Einstweilen sind wir schwer
zu erkennen; man muß uns verwechseln. Sind wir ,Freidenker'? / In allen Län-
dern Europas, und ebenso in Nordamerika giebt es jetzt ,Freidenker': gehören
sie zu uns? Nein, meine Herren: ihr wollt ungefähr das Gegentheil von dem,
was in den Absichten jener Philosophen liegt [...] Was mich von ihnen [den
zeitgenössischen Freidenkern] trennt, sind die Werthschätzungen: denn sie ge-
hören allesammt in die demokratische Bewegung und wollen gleiche Rechte
für Alle, sie sehen in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft die Ursa-
chen für die menschlichen Mängel und Entartungen, sie begeistern sich für
das Zerbrechen dieser Formen: und einstweilen dünkt ihnen das Menschlichs-
te, was sie thun können, allen Menschen zu ihrem Grad geistiger ,Freiheit' zu
verhelfen. Kurz und schlimm, sie gehören zu den , Nivellirern', zu jener Art
Menschen, die mir in jedem Betracht gröblich wider den Geschmack und noch
mehr wider die Vernunft geht. Ich will, auch in Dingen des Geistes, Krieg und
Gegensätze; und mehr Krieg als je, mehr G<egensätze> als je; ich würde den
härtesten Despotismus (als Schule für die Geschmeidigkeit des Geistes) noch
eher gutheißen als die feuchte laue Luft eines ,preßfreien' Zeitalters, in dem
aller Geist bequem und dumm wird und die Glieder streckt. Ich bin darin auch
heute noch, was ich war - ,unzeitgemäß'." (16[17], KSA 11, 557, 21-559, 6).
In der Schrift Jenseits von Gut und Böse (Zweites Hauptstück: der freie
Geist, JGB 44) spricht N. von den „Philosophen der Zukunft" - womit er meis-
tens sich selbst meint - und stellt die rhetorische Frage: „Brauche ich nach
alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, sehr freie Geister sein wer-
den, diese Philosophen der Zukunft, - so gewiss sie auch nicht bloss freie Geis-
ter sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-
Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will?" (KSA 5, 60, 21-25).
Er versucht, die zeitgenössische Freidenker-Bewegung zu diskreditieren und
den Begriff des Freigeists umzukodieren, um ihn für sich selbst als den einzig
wahren Freigeist zu beanspruchen, bedient sich aber immer noch eines Plu-
rals. Er fühle die Schuldigkeit, so fährt er fort, „ein altes dummes Vorurtheil
und Missverständniss von uns gemeinsam [!] fortzublasen, welches allzulange
wie ein Nebel den Begriff ,freier Geist' undurchsichtig gemacht hat. In allen
Ländern Europa's und ebenso in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch
In einem im Sommer 1885 entstandenen Notat grenzt sich N. von den zeit-
genössischen Freidenkern entschieden ab: „Aber zu wem rede ich dies? Wo
sind denn diese freien Geister'? Giebt es denn ein solches ,unter uns'? - /
Ich sehe um mich: wer denkt, wer fühlt darin wie ich? Wer will, was mein
verborgenster Wille will? Aber ich fand Niemanden bisher [...] Wir neuen Philo-
sophen, wir Versuchenden, denken anders - und wir wollen es nicht beim
Denken bewenden lassen. Wir denken freier - vielleicht kommt der Tag, wo
man mit Augen sieht, daß wir auch freier handeln. Einstweilen sind wir schwer
zu erkennen; man muß uns verwechseln. Sind wir ,Freidenker'? / In allen Län-
dern Europas, und ebenso in Nordamerika giebt es jetzt ,Freidenker': gehören
sie zu uns? Nein, meine Herren: ihr wollt ungefähr das Gegentheil von dem,
was in den Absichten jener Philosophen liegt [...] Was mich von ihnen [den
zeitgenössischen Freidenkern] trennt, sind die Werthschätzungen: denn sie ge-
hören allesammt in die demokratische Bewegung und wollen gleiche Rechte
für Alle, sie sehen in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft die Ursa-
chen für die menschlichen Mängel und Entartungen, sie begeistern sich für
das Zerbrechen dieser Formen: und einstweilen dünkt ihnen das Menschlichs-
te, was sie thun können, allen Menschen zu ihrem Grad geistiger ,Freiheit' zu
verhelfen. Kurz und schlimm, sie gehören zu den , Nivellirern', zu jener Art
Menschen, die mir in jedem Betracht gröblich wider den Geschmack und noch
mehr wider die Vernunft geht. Ich will, auch in Dingen des Geistes, Krieg und
Gegensätze; und mehr Krieg als je, mehr G<egensätze> als je; ich würde den
härtesten Despotismus (als Schule für die Geschmeidigkeit des Geistes) noch
eher gutheißen als die feuchte laue Luft eines ,preßfreien' Zeitalters, in dem
aller Geist bequem und dumm wird und die Glieder streckt. Ich bin darin auch
heute noch, was ich war - ,unzeitgemäß'." (16[17], KSA 11, 557, 21-559, 6).
In der Schrift Jenseits von Gut und Böse (Zweites Hauptstück: der freie
Geist, JGB 44) spricht N. von den „Philosophen der Zukunft" - womit er meis-
tens sich selbst meint - und stellt die rhetorische Frage: „Brauche ich nach
alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, sehr freie Geister sein wer-
den, diese Philosophen der Zukunft, - so gewiss sie auch nicht bloss freie Geis-
ter sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-
Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will?" (KSA 5, 60, 21-25).
Er versucht, die zeitgenössische Freidenker-Bewegung zu diskreditieren und
den Begriff des Freigeists umzukodieren, um ihn für sich selbst als den einzig
wahren Freigeist zu beanspruchen, bedient sich aber immer noch eines Plu-
rals. Er fühle die Schuldigkeit, so fährt er fort, „ein altes dummes Vorurtheil
und Missverständniss von uns gemeinsam [!] fortzublasen, welches allzulange
wie ein Nebel den Begriff ,freier Geist' undurchsichtig gemacht hat. In allen
Ländern Europa's und ebenso in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch