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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0128
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 33-34 113

„welcher [Gott] auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des neuen
Testaments, nicht des Buchstabens [d. h. des formellen Gesetzes], sondern des
Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig". Vgl. 2 Korin-
ther 17: „Denn der Herr ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist
Freiheit".
N. lässt den biblischen Kontext außer Acht und problematisiert nur „die
Befolgung einer moralischen Vorschrift" (33, 19 f.). Der nächste Text (Μ 22)
führt die (Schein-)Auseinandersetzung mit dem Römerbrief des Paulus fort,
nunmehr im Hinblick auf die fundamentale Bedeutung, welche Luthers Ausle-
gung des Römerbriefs für den Protestantismus hatte.

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34, 2 Werke und Glaube.] Dieser Text schließt an den vorausgehenden an,
indem er der von Luthers Auslegung des Römerbriefs ausgehenden protestanti-
schen Lehre widerspricht, dass der Christ allein durch den Glauben (sola fide),
nicht durch seine Werke vor Gott gerechtfertigt sei. Doch handelt es sich um
eine problematische Auffassung sowohl des Römerbriefs wie der davon ausge-
henden Lehre Luthers, wenn N. schreibt, dass es im Protestantismus „nur auf
den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke nothwendig fol-
gen müssen" (34, 4 f.). Gerade letzteres entspricht dem Römerbrief nicht, denn
dieser trennt den Glauben als allein auf Gottes Gnade setzende und daher selig
machende Haltung strikt von der Werkgerechtigkeit. Von einer notwendigen
Folge der Werke aus dem Glauben ist dagegen nicht die Rede. Luther aller-
dings - und daran dürfte N. gedacht haben - schreibt in seiner Abhandlung
Von der Freiheit eines Christenmenschen (Tractatus de libertate Christiana), dass
die guten Werke als ganz „freie" Werke: „auß freyer lieb umbsonst / got zu
gefallen" ihren Wert haben. Schopenhauer resümiert treffend, aber etwas wei-
tergehend: „Luther verlangt (im Buche „De libertate Christiana"), daß, nach-
dem der Glaube eingetreten, die guten Werke ganz von selbst aus ihm hervor-
gehn, als Symptome, als Früchte desselben; aber durchaus nicht als an sich
Anspruch auf Verdienst, Rechtfertigung, oder Lohn machend, sondern ganz
freiwillig und unentgeltlich geschehend". Schopenhauer interpretiert dies als
„Liebe, bis zum völligen Aufheben des Egoismus" (WWV I, Viertes Buch, § 70,
Schopenhauer 1873, Bd. 2, 482 f.). Paulus schreibt: „Dem aber, der nicht mit
Werken umgeht, glaubt aber an den, der [sogar] die Gottlosen gerecht macht,
dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit. / Nach welcher Weise auch
David sagt, daß die Seligkeit sei allein des Menschen, welchem Gott zurechnet
die Gerechtigkeit ohne Zutun der Werke" (χωρίς έργων; Römer 4, 5-6). Dem
 
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