Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 38-39 119
Wertungen als vorurteilshaft oder scheinhaft destruiert, sieht N. sowohl die
griechische „Tugend" wie die christliche „Sünde" als schauspielerische Mani-
festationen einer durch Konvention zustandegekommenen unauthentischen
„Moral" - auch wenn die Griechen deutlich besser davon kommen, άρετή (~
„Tugend") ist ein Zentralbegriff im ethischen Denken der Griechen, deren Phi-
losophie weitgehend Ethik ist. Er meint sittliche Vollkommenheit, und zwar
eine, die sich im Handeln auf allerbeste Weise bewährt. Dabei ist stets die Vor-
stellung von Auszeichnung mit im Spiel, schon etymologisch, denn άρετή ist
mit άριστος verwandt, dem „Besten". Da diese Auszeichnung nur im Wettstreit
möglich ist und der Wettstreit bei den Griechen in der Tat einen festen Platz
hat - etwa als Wettsingen der Dithyrambenchöre bei den Großen Dionysien,
als Wettstreit der Dichter bei den Aufführungen von Tragödien und nicht zu-
letzt im Sport, so bei den Olympischen Spielen - hebt N. auch im Hinblick auf
die Moral, auf die moralische „Tugend", den „Wettstreit" (39, 18) hervor.
Als „eingefleischte Schauspieler" (39, 15 f.) glaubt N. die Griechen bezeich-
nen zu können, weil sie das Schauspiel in Gestalt der Tragödie und der Komö-
die erfanden, damit auch das Theater, das von den Anfängen bis in die helle-
nistische Zeit hinein eng mit dem Kult des Gottes Dionysos verbunden blieb.
Analog zu dieser Theaterkultur will N. auch eine Art von Moraltheater statuie-
ren, in dem die Griechen die „Tugend zur Schau zu bringen" (39, 20) versuch-
ten. Dass er noch hinzufügt „schon um der Übung willen" (39, 21), hat seinen
Grund nicht nur darin, dass Schauspiele eingeübt werden müssen, sondern
auch in der großen Bedeutung, welche gerade in der griechischen Kultur die
Vorstellung der „Übung" allgemein hat - im Sport, in der Erziehung (παιδεία)
und, verinnerlicht, als geistiges Training. Das griechische Wort für Übung ist
„Askesis" (άσκησις), wovon später, einhergehend mit einer Bedeutungsver-
schiebung, die ,Einübung' in eine bedürfnislose, weil auf das Innere konzent-
rierte Lebensweise, die (religiös motivierte) ,Askese' abgeleitet wurde. Immer
wieder pointiert N. die Notwendigkeit der „Übung", so in M 22, wo er empha-
tisch ausruft: „Übung, Übung, Übung!" (34, 15).
Um seiner Behauptung der bloßen Schauspielerei der Griechen in der ethi-
schen Bemühung um „Tugend" die Behauptung einer noch exzessiveren Mo-
ral-Schauspielerei bei den Christen hinzufügen zu können, spricht N. von dem
„widerlichen Prunken und Paradiren mit der Sünde" (39, 24 f.). Zwar gibt es im
Christentum solche Tendenzen, etwa bei Augustinus, aber als Pauschalbe-
hauptung gehört die Aussage zu den für N. auch sonst charakteristischen Ein-
seitigkeiten und Übertreibungen. Sie dürfte nicht zuletzt von Wagners schau-
spielerhafter, schließlich sogar in der Oper (Parsifal) zur Schau gestellter Hin-
wendung zu einer problematischen Christlichkeit motiviert sein. N. hatte
gerade gegen diese Tendenz Wagners eine dezidierte Aversion. Am entschie-
Wertungen als vorurteilshaft oder scheinhaft destruiert, sieht N. sowohl die
griechische „Tugend" wie die christliche „Sünde" als schauspielerische Mani-
festationen einer durch Konvention zustandegekommenen unauthentischen
„Moral" - auch wenn die Griechen deutlich besser davon kommen, άρετή (~
„Tugend") ist ein Zentralbegriff im ethischen Denken der Griechen, deren Phi-
losophie weitgehend Ethik ist. Er meint sittliche Vollkommenheit, und zwar
eine, die sich im Handeln auf allerbeste Weise bewährt. Dabei ist stets die Vor-
stellung von Auszeichnung mit im Spiel, schon etymologisch, denn άρετή ist
mit άριστος verwandt, dem „Besten". Da diese Auszeichnung nur im Wettstreit
möglich ist und der Wettstreit bei den Griechen in der Tat einen festen Platz
hat - etwa als Wettsingen der Dithyrambenchöre bei den Großen Dionysien,
als Wettstreit der Dichter bei den Aufführungen von Tragödien und nicht zu-
letzt im Sport, so bei den Olympischen Spielen - hebt N. auch im Hinblick auf
die Moral, auf die moralische „Tugend", den „Wettstreit" (39, 18) hervor.
Als „eingefleischte Schauspieler" (39, 15 f.) glaubt N. die Griechen bezeich-
nen zu können, weil sie das Schauspiel in Gestalt der Tragödie und der Komö-
die erfanden, damit auch das Theater, das von den Anfängen bis in die helle-
nistische Zeit hinein eng mit dem Kult des Gottes Dionysos verbunden blieb.
Analog zu dieser Theaterkultur will N. auch eine Art von Moraltheater statuie-
ren, in dem die Griechen die „Tugend zur Schau zu bringen" (39, 20) versuch-
ten. Dass er noch hinzufügt „schon um der Übung willen" (39, 21), hat seinen
Grund nicht nur darin, dass Schauspiele eingeübt werden müssen, sondern
auch in der großen Bedeutung, welche gerade in der griechischen Kultur die
Vorstellung der „Übung" allgemein hat - im Sport, in der Erziehung (παιδεία)
und, verinnerlicht, als geistiges Training. Das griechische Wort für Übung ist
„Askesis" (άσκησις), wovon später, einhergehend mit einer Bedeutungsver-
schiebung, die ,Einübung' in eine bedürfnislose, weil auf das Innere konzent-
rierte Lebensweise, die (religiös motivierte) ,Askese' abgeleitet wurde. Immer
wieder pointiert N. die Notwendigkeit der „Übung", so in M 22, wo er empha-
tisch ausruft: „Übung, Übung, Übung!" (34, 15).
Um seiner Behauptung der bloßen Schauspielerei der Griechen in der ethi-
schen Bemühung um „Tugend" die Behauptung einer noch exzessiveren Mo-
ral-Schauspielerei bei den Christen hinzufügen zu können, spricht N. von dem
„widerlichen Prunken und Paradiren mit der Sünde" (39, 24 f.). Zwar gibt es im
Christentum solche Tendenzen, etwa bei Augustinus, aber als Pauschalbe-
hauptung gehört die Aussage zu den für N. auch sonst charakteristischen Ein-
seitigkeiten und Übertreibungen. Sie dürfte nicht zuletzt von Wagners schau-
spielerhafter, schließlich sogar in der Oper (Parsifal) zur Schau gestellter Hin-
wendung zu einer problematischen Christlichkeit motiviert sein. N. hatte
gerade gegen diese Tendenz Wagners eine dezidierte Aversion. Am entschie-