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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0138
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 43 123

nichts Ursprüngliches ist. Wie Pascal (vgl. hierzu NK Μ 111) macht er dies am
Beispiel von Kindern deutlich, die lediglich das von den Eltern Vorgegebene
„nachmachen" (43, 13). Er negativiert vollends dieses Moment der Mimesis,
indem er hinzusetzt: „als geborene Affen". In der griechischen Ethik, sowohl
bei Platon wie bei Aristoteles, wird die Mimesis nicht negativ gewertet, sondern
im Gegenteil als anthropologische Konstante und wesentliches Element der
,moralischen' Erziehung positiv besetzt (vgl. NK M 111). N. aber hebt das Un-
authentische, Nicht-Ursprüngliche der Nachahmung hervor, um die ,Moral' als
etwas Sekundäres zu delegitimieren. Die moralischen „Gefühle" sollen als „an-
gelernte und wohlgeübte Affecte" (43, 14) disqualifiziert werden. Die nachträg-
lichen „Begründungen", welche die moralischen Verhaltensweisen als „be-
rechtigt" legitimieren sollen, sind demzufolge Rationalisierungen, die ihrer-
seits sogar nur tertiäre Operationen zum Beweis von bewusstem „Anstand"
(43, 16 f.) darstellen. Als problematisch erweist sich die Folgerung: „Insofern
ist die Geschichte der moralischen Gefühle eine ganz andere, als die Geschich-
te der moralischen Begriffe" (43, 21-23). Denn im Charakter des Unauthenti-
schen, wie ihn N. betont, sind nach seiner Darlegung sowohl „Gefühle" (als
nachgemachte, angelernte) als auch nachträglich applizierte „Begriffe" prinzi-
piell gleich und nur graduell verschieden.
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43, 27 Gefühle und deren Abkunft von Urtheilen.] Wie schon im vo-
rausgehenden Text (Μ 34) interessiert sich N. hier für die „Gefühle" im Hin-
blick auf ihre moralische Relevanz. Und wieder legt er es darauf an, das Un-
authentische und Uneigentliche ,moralischer' Gefühle zu demonstrieren. Nun-
mehr wendet er ein im engeren Sinne genealogisches Schema an, indem er von
„Abkunft" spricht. Heißt es in M 34, solche Gefühle seien lediglich nachge-
macht und angelernt, so wird ihnen hier eine weiter zurückreichende Vergan-
genheit in Urteilen und Wertschätzungen zugeschrieben, die „vererbt" (44, 1),
also immerhin tiefer eingesenkt sind. Den genealogischen Aspekt metaphori-
siert N., indem er vom „Enkelkind", vom „Großvater" und der „Großmutter"
eines Urteils spricht, aus dem schließlich das moralische „Gefühl" hervorgehe.
Die Vorstellung von „Göttern, die in uns sind" (44, 6) geht auf die Stoa zurück.
Den Stoikern dient sie zur Betonung menschlicher Autonomie. Cicero beispiels-
weise spricht in den Tusculanen von dem „in uns herrschenden Gott" („domi-
nans ille in nobis deus"; Tusculanae disputationes I, 74), Seneca vom „Gott in
uns" („deus internus", „deus in nobis").
Die Rede von „Werthschätzungen" präludiert N.s spätere Theorie, dass
Werte das Produkt von Wertschätzungen und insofern veränderbar sind, wor-
 
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