Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 45-46 129
In den Werken und Tagen unterscheidet Hesiod eine zerstörerische und
eine förderliche Eris: „Nicht nur eine Sippe der Eris gibt es; auf Erden / Walten
ja zwei. Die eine mag gern der Kundige loben, / Aber die andere tadeln. Sie
sind ja verschiedenen Sinnes. / Eine von ihnen erweckt nur Hader und häßli-
che Feindschaft / Grausam [...] / Aber die finstere Nacht gebar schon früher die
andre [...] / Denn sie ermuntert sogar die lässigen Männer zur Arbeit. / Schaut
ein solcher auf andre, die reicher, so möchte er stärker / Schaffen, er sputet
sich dann, den Acker zu pflügen, zu säen, / Gut zu richten das Haus: so eifert
Nachbar mit Nachbar / Um den bessern Ertrag. Die Eris ist Sterblichen nütz-
lich; / Eifert doch Töpfer mit Töpfer, der Zimmermann mit dem Zimmrer, / Und
es neidet der Bettler dem Bettler, der Sänger dem Sänger." (Werke und Tage, V.
11-26; Übersetzung von Thassilo von Scheffer) N. geht nur von den zuletzt zi-
tierten Versen aus. Sie gelten dem von ihm genannten „Wettstreit", zu dessen
Äußerungsformen neben dem Wetteifer der Neid - besser: das (zum Wetteifern
treibende) ,Beneiden' gehört. Diesem Kontext entspricht nicht die generalisie-
rende und übertreibende Aussage N.s: „So haben die älteren Griechen anders
über den Neid empfunden, als wir." Schopenhauer wertet in WWV I, 4. Buch,
§ 61 die Eris ganz negativ: „Eine Hauptquelle des Leidens, welches wir oben
als allem Lebens wesentlich und unvermeidlich gefunden haben, ist, sobald es
wirklich und in bestimmter Gestalt eintritt, jene Eris, der Kampf aller Individu-
en, der Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im In-
nern behaftet ist, und der durch das principium individuationis zur Sichtbar-
keit gelangt" (Schopenhauer 1873, Bd. 2, 393).
46, 2-15 Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschät-
zung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das
Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes,
dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, - denn es geht wider den modernen
Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben
gelernt hat. Bei den Griechen dagegen [...] musste wohl, Dank allen Orakeln und
Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradirt werden und in's Böse und Gefährliche
hinabsinken. -] Noch mehr als die vorangehende Aussage über den Neid sind
die Ausführungen zur Hoffnung bei den Griechen problematisch, in hohem
Grade sogar unzutreffend. Schon die Verallgemeinerung „die Griechen" (46, 3)
ist nicht haltbar. Denn es gibt zwar eine Anzahl von Aussagen in der griechi-
schen Literatur und Philosophie, welche die Hoffnung nicht, wie das Christen-
tum, ausschließlich positiv, sondern neutral bewerten, im Sinne von „Er-
wartung", „Vermutung"; aber keineswegs empfanden „die Griechen" die Hoff-
nung, wie N. behauptet, als „blind und tückisch". Oft verwenden die griechi-
schen Autoren den Begriff der Hoffnung durchaus positiv, wenn auch natürlich
nicht im heilsgeschichtlich perspektivierten Sinn des Christentums, wie ihn
In den Werken und Tagen unterscheidet Hesiod eine zerstörerische und
eine förderliche Eris: „Nicht nur eine Sippe der Eris gibt es; auf Erden / Walten
ja zwei. Die eine mag gern der Kundige loben, / Aber die andere tadeln. Sie
sind ja verschiedenen Sinnes. / Eine von ihnen erweckt nur Hader und häßli-
che Feindschaft / Grausam [...] / Aber die finstere Nacht gebar schon früher die
andre [...] / Denn sie ermuntert sogar die lässigen Männer zur Arbeit. / Schaut
ein solcher auf andre, die reicher, so möchte er stärker / Schaffen, er sputet
sich dann, den Acker zu pflügen, zu säen, / Gut zu richten das Haus: so eifert
Nachbar mit Nachbar / Um den bessern Ertrag. Die Eris ist Sterblichen nütz-
lich; / Eifert doch Töpfer mit Töpfer, der Zimmermann mit dem Zimmrer, / Und
es neidet der Bettler dem Bettler, der Sänger dem Sänger." (Werke und Tage, V.
11-26; Übersetzung von Thassilo von Scheffer) N. geht nur von den zuletzt zi-
tierten Versen aus. Sie gelten dem von ihm genannten „Wettstreit", zu dessen
Äußerungsformen neben dem Wetteifer der Neid - besser: das (zum Wetteifern
treibende) ,Beneiden' gehört. Diesem Kontext entspricht nicht die generalisie-
rende und übertreibende Aussage N.s: „So haben die älteren Griechen anders
über den Neid empfunden, als wir." Schopenhauer wertet in WWV I, 4. Buch,
§ 61 die Eris ganz negativ: „Eine Hauptquelle des Leidens, welches wir oben
als allem Lebens wesentlich und unvermeidlich gefunden haben, ist, sobald es
wirklich und in bestimmter Gestalt eintritt, jene Eris, der Kampf aller Individu-
en, der Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im In-
nern behaftet ist, und der durch das principium individuationis zur Sichtbar-
keit gelangt" (Schopenhauer 1873, Bd. 2, 393).
46, 2-15 Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschät-
zung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das
Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes,
dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, - denn es geht wider den modernen
Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben
gelernt hat. Bei den Griechen dagegen [...] musste wohl, Dank allen Orakeln und
Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradirt werden und in's Böse und Gefährliche
hinabsinken. -] Noch mehr als die vorangehende Aussage über den Neid sind
die Ausführungen zur Hoffnung bei den Griechen problematisch, in hohem
Grade sogar unzutreffend. Schon die Verallgemeinerung „die Griechen" (46, 3)
ist nicht haltbar. Denn es gibt zwar eine Anzahl von Aussagen in der griechi-
schen Literatur und Philosophie, welche die Hoffnung nicht, wie das Christen-
tum, ausschließlich positiv, sondern neutral bewerten, im Sinne von „Er-
wartung", „Vermutung"; aber keineswegs empfanden „die Griechen" die Hoff-
nung, wie N. behauptet, als „blind und tückisch". Oft verwenden die griechi-
schen Autoren den Begriff der Hoffnung durchaus positiv, wenn auch natürlich
nicht im heilsgeschichtlich perspektivierten Sinn des Christentums, wie ihn