152 Morgenröthe
In Paulus sieht N. einen „jüdischen Pascal", weil er wie Pascal zur religiö-
sen Selbstquälerei disponiert gewesen sei. Diese Selbstquälerei beobachtet N.
am spannungsreichen Versuch des Paulus, sich zwar in die Tradition des jüdi-
schen Gesetzesglaubens zu stellen, diesen zugleich aber in einem höheren An-
spruch aufzuheben. N. psychologisiert und pathologisiert insbesondere die von
Paulus im Brief an die Römer und im Brief an die Galater formulierte Absage
an einen äußerlich bleibenden Gesetzesglauben. Statt eines solchen Gesetzes-
glaubens, der sich in der Werkgerechtigkeit genügt, fordert Paulus die Hinwen-
dung zur christlichen Verinnerlichung im Glauben und in der Liebe, mit der er
das Ende und zugleich die Vollendung des alten Gesetzesglaubens intendiert.
Vgl. Römer 10, 4: „Christus ist des Gesetzes Ende"; Röm. 13, 10: „so ist nun
[d. h. seit Christus] die Liebe des Gesetzes Erfüllung". Darauf bezieht sich N. in
65, 14-66, 24, allerdings bezeichnenderweise ohne die Vollendung („Erfül-
lung") des Gesetzes durch die „Liebe" als das Wesentliche zu erwähnen; er
konzentriert sich auf das Negative und macht Paulus in der anschließenden
Partie 66, 24-67, 19 zum „Vernichter des Gesetzes" (67, 4), ja zum „Lehrer
der Vernichtung des Gesetzes!" (67, 18 f.) N. projiziert sein eigenes Un-
ternehmen, die bisher gültige „Moral" zu untergraben und zu vernichten, auf
den Apostel und übernimmt insofern indirekt dessen Rolle, so wie er sie inter-
pretiert.
N. versteht das Damaskus-Erlebnis im Gefolge Maudsleys als epileptisches
Phänomen, logisiert dann aber den Vorgang aus der hypothetisch rekonstruier-
ten Innenperspektive des Paulus: „es ist unvernünftig, hatte er sich gesagt,
gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg" (66, 34-67, 2); N.
spricht demgemäß auch von einem „Einfall" und von einer „Räthsellösung"
(67, 12). Er transformiert das epileptische Erlebnis in einen genialen Einfall und
sogar in einen „Gedanken": „das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen
scheint ihm an diesen Einfall, an diese Secunde eines plötzlichen Aufleuchtens
gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel,
das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte! Denn
er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes!" (67, 13-19)
Paulus spricht nicht von der „Vernichtung des Gesetzes" und davon, dass er
die Vernichtung des Gesetzes lehre, sondern konstatiert, dass er dem Gesetz
„gestorben" sei (νόμω άπέθανον), es also hinter sich gelassen habe (Galater 2,
19). Allenfalls aus dem - gleichnishaften - Wortlaut von Gal. 2, 18 lässt sich
der Gedanke der Vernichtung ableiten, wenn man das Wort καταλύειν als „zer-
stören" (~ „vernichten") versteht (εί γάρ α κατέλυσα [...]). Die Vulgata über-
setzt: „destruxi". In dem in Anführungszeichen gesetzten Satz: „Wenn ich jetzt
das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich
Christus zum Mithelfer der Sünde machen" (67, 25-27) zitiert N. frei Gal. 2, 17 f.,
In Paulus sieht N. einen „jüdischen Pascal", weil er wie Pascal zur religiö-
sen Selbstquälerei disponiert gewesen sei. Diese Selbstquälerei beobachtet N.
am spannungsreichen Versuch des Paulus, sich zwar in die Tradition des jüdi-
schen Gesetzesglaubens zu stellen, diesen zugleich aber in einem höheren An-
spruch aufzuheben. N. psychologisiert und pathologisiert insbesondere die von
Paulus im Brief an die Römer und im Brief an die Galater formulierte Absage
an einen äußerlich bleibenden Gesetzesglauben. Statt eines solchen Gesetzes-
glaubens, der sich in der Werkgerechtigkeit genügt, fordert Paulus die Hinwen-
dung zur christlichen Verinnerlichung im Glauben und in der Liebe, mit der er
das Ende und zugleich die Vollendung des alten Gesetzesglaubens intendiert.
Vgl. Römer 10, 4: „Christus ist des Gesetzes Ende"; Röm. 13, 10: „so ist nun
[d. h. seit Christus] die Liebe des Gesetzes Erfüllung". Darauf bezieht sich N. in
65, 14-66, 24, allerdings bezeichnenderweise ohne die Vollendung („Erfül-
lung") des Gesetzes durch die „Liebe" als das Wesentliche zu erwähnen; er
konzentriert sich auf das Negative und macht Paulus in der anschließenden
Partie 66, 24-67, 19 zum „Vernichter des Gesetzes" (67, 4), ja zum „Lehrer
der Vernichtung des Gesetzes!" (67, 18 f.) N. projiziert sein eigenes Un-
ternehmen, die bisher gültige „Moral" zu untergraben und zu vernichten, auf
den Apostel und übernimmt insofern indirekt dessen Rolle, so wie er sie inter-
pretiert.
N. versteht das Damaskus-Erlebnis im Gefolge Maudsleys als epileptisches
Phänomen, logisiert dann aber den Vorgang aus der hypothetisch rekonstruier-
ten Innenperspektive des Paulus: „es ist unvernünftig, hatte er sich gesagt,
gerade diesen Christus zu verfolgen! Hier ist ja der Ausweg" (66, 34-67, 2); N.
spricht demgemäß auch von einem „Einfall" und von einer „Räthsellösung"
(67, 12). Er transformiert das epileptische Erlebnis in einen genialen Einfall und
sogar in einen „Gedanken": „das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen
scheint ihm an diesen Einfall, an diese Secunde eines plötzlichen Aufleuchtens
gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel,
das Licht der Lichter; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte! Denn
er ist von jetzt ab der Lehrer der Vernichtung des Gesetzes!" (67, 13-19)
Paulus spricht nicht von der „Vernichtung des Gesetzes" und davon, dass er
die Vernichtung des Gesetzes lehre, sondern konstatiert, dass er dem Gesetz
„gestorben" sei (νόμω άπέθανον), es also hinter sich gelassen habe (Galater 2,
19). Allenfalls aus dem - gleichnishaften - Wortlaut von Gal. 2, 18 lässt sich
der Gedanke der Vernichtung ableiten, wenn man das Wort καταλύειν als „zer-
stören" (~ „vernichten") versteht (εί γάρ α κατέλυσα [...]). Die Vulgata über-
setzt: „destruxi". In dem in Anführungszeichen gesetzten Satz: „Wenn ich jetzt
das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich
Christus zum Mithelfer der Sünde machen" (67, 25-27) zitiert N. frei Gal. 2, 17 f.,