Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 64 153
aber kehrt die Reihenfolge der Sätze um. Bei Paulus steht: „Sollten wir aber
auch selbst als Sünder befunden werden, ist dann Christus ein Diener der Sün-
de? / Das sei ferne. / Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe (κατέλυ-
σα), wieder aufbaue (οικοδομώ), dann mache ich mich selbst zu einem Übertre-
ter".
Analoge Vorstellungen wendet N. wenige Jahre später auf sich selbst an.
Zugleich folgt er dem psychologischen Schema des dialektischen Umschlags,
der sich ereignet, wenn ein alter Zustand seinen Grenzwert erreicht hat und
dann plötzlich in sein Gegenteil umschlägt. Erstmals hatte er dieses Schema in
der Geburt der Tragödie angewandt (vgl. NK GT 15), wo er Sokrates, für N.
Inbegriff des „theoretischen Menschen", als einen in sterilem Rationalismus
Befangenen darstellt, der sich in der Extremsituation der Todesstunde der Mu-
sik hingibt - N. versteht die Musik in der an Wagner orientierten Erstlings-
schrift noch ganz im Sinne eines ,dionysisch'-irrationalen ,Geistes der Musik'.
An einen ähnlichen Grenzwert des alten Zustands lässt N. Paulus gelangen,
um dann unmittelbar den ekstatischen Umschlag folgen zu lassen: „ihm, dem
wüthenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todtmüde war, erschien
auf einsamer Strasse jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesich-
te" (66, 29-32). Mit Kategorien wie Krankheit (67, 4 f.: „Der Kranke des gequäl-
testen Hochmuthes") und „Rausch" (68, 6: „Rausch des Paulus") folgt N. sei-
ner Neigung, überall Pathologisches zu entdecken.
Die Deutung des Übergangs vom Judentum zum Christentum als eines
Übergangs von der jüdischen Gesetzesreligion auf das Christentum, auch von
der ethnisch beschränkten, nur für das Judentum relevanten Religion auf die
universal selbst die ,Heiden' einbeziehende Erlösungsreligion konnte N. auch
in der von ihm studierten kirchengeschichtlichen Darstellung von Moritz von
Engelhardt finden: Das Christenthum Justins des Märtyrers (vgl. NK M 84). Dort
heißt es: „Zur Wahl der Ausdrücke ,Gesetz' und ,Bund' sieht sich Justin sowohl
durch den Vergleich des Christenthums mit dem Judenthum, wie durch die
Autorität des prophetischen Worts veranlasst. ,Ich habe gelesen', sagt er, dass
ein Gesetz ausgehen wird zur Erleuchtung der Heiden. Bei Jesaias heißt es:
meine Gerechtigkeit naht und mein Heil (τό σωτήριον μου) gehet aus, und
auf meinen Arm werden die Heiden hoffen. Es wird also vom Propheten die
Heilsoffenbarung in Christo als ein Gesetz von Gott zur Erleuchtung der Heiden
bezeichnet. Ebenso verhält es sich mit dem Wort διαθήκη. Durch Jeremias ver-
heißt Gott: ich will mit dem Hause Israel und Juda einen neuen Bund machen
(διαθήσομαι διαθήκην καινήν), nicht den, welchen ich mit ihren Vätern ge-
schlossen habe an dem Tage, da ich sie an der Hand ergriff, sie aus Egypten
zu führen. / Äusser diesen Citaten kommen zunächst noch folgende Aeusse-
rungen Justins in Betracht. / ,Das auf dem Horeb gegebene Gesetz ist schon alt
aber kehrt die Reihenfolge der Sätze um. Bei Paulus steht: „Sollten wir aber
auch selbst als Sünder befunden werden, ist dann Christus ein Diener der Sün-
de? / Das sei ferne. / Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe (κατέλυ-
σα), wieder aufbaue (οικοδομώ), dann mache ich mich selbst zu einem Übertre-
ter".
Analoge Vorstellungen wendet N. wenige Jahre später auf sich selbst an.
Zugleich folgt er dem psychologischen Schema des dialektischen Umschlags,
der sich ereignet, wenn ein alter Zustand seinen Grenzwert erreicht hat und
dann plötzlich in sein Gegenteil umschlägt. Erstmals hatte er dieses Schema in
der Geburt der Tragödie angewandt (vgl. NK GT 15), wo er Sokrates, für N.
Inbegriff des „theoretischen Menschen", als einen in sterilem Rationalismus
Befangenen darstellt, der sich in der Extremsituation der Todesstunde der Mu-
sik hingibt - N. versteht die Musik in der an Wagner orientierten Erstlings-
schrift noch ganz im Sinne eines ,dionysisch'-irrationalen ,Geistes der Musik'.
An einen ähnlichen Grenzwert des alten Zustands lässt N. Paulus gelangen,
um dann unmittelbar den ekstatischen Umschlag folgen zu lassen: „ihm, dem
wüthenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen todtmüde war, erschien
auf einsamer Strasse jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesich-
te" (66, 29-32). Mit Kategorien wie Krankheit (67, 4 f.: „Der Kranke des gequäl-
testen Hochmuthes") und „Rausch" (68, 6: „Rausch des Paulus") folgt N. sei-
ner Neigung, überall Pathologisches zu entdecken.
Die Deutung des Übergangs vom Judentum zum Christentum als eines
Übergangs von der jüdischen Gesetzesreligion auf das Christentum, auch von
der ethnisch beschränkten, nur für das Judentum relevanten Religion auf die
universal selbst die ,Heiden' einbeziehende Erlösungsreligion konnte N. auch
in der von ihm studierten kirchengeschichtlichen Darstellung von Moritz von
Engelhardt finden: Das Christenthum Justins des Märtyrers (vgl. NK M 84). Dort
heißt es: „Zur Wahl der Ausdrücke ,Gesetz' und ,Bund' sieht sich Justin sowohl
durch den Vergleich des Christenthums mit dem Judenthum, wie durch die
Autorität des prophetischen Worts veranlasst. ,Ich habe gelesen', sagt er, dass
ein Gesetz ausgehen wird zur Erleuchtung der Heiden. Bei Jesaias heißt es:
meine Gerechtigkeit naht und mein Heil (τό σωτήριον μου) gehet aus, und
auf meinen Arm werden die Heiden hoffen. Es wird also vom Propheten die
Heilsoffenbarung in Christo als ein Gesetz von Gott zur Erleuchtung der Heiden
bezeichnet. Ebenso verhält es sich mit dem Wort διαθήκη. Durch Jeremias ver-
heißt Gott: ich will mit dem Hause Israel und Juda einen neuen Bund machen
(διαθήσομαι διαθήκην καινήν), nicht den, welchen ich mit ihren Vätern ge-
schlossen habe an dem Tage, da ich sie an der Hand ergriff, sie aus Egypten
zu führen. / Äusser diesen Citaten kommen zunächst noch folgende Aeusse-
rungen Justins in Betracht. / ,Das auf dem Horeb gegebene Gesetz ist schon alt