Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 64 155
denchristen [im Unterschied zu den Heiden-Christen, zu denen Justinus gehör-
te] ist das Gesetz der gottgeordnete Weg zum Heil, daher zur Erfüllung durch
den Menschen bestimmt. / Nach Paulus ist es für den Menschen unerfüllbar;
verordnet nur, um Sünde zu bewirken" (Lüdemann 1972, 201). Und er unter-
streicht: „Es kann zunächst darüber kein Zweifel herrschen, dass die Unerfüll-
barkeit des Mosaischen Gesetzes für Paulus ein Axiom war, das er zu keiner
Zeit und in keinem seiner Briefe aus den Augen gelassen hat (Gal. 3, 19. 1 Cor.
15, 56. 2 Cor. 3, 6 ff. Röm. 5, 20)" (Lüdemann 1972, 204). Der nächste Schritt
in Lüdemanns Analyse: „Dem gesetzlichen Bewusstsein entsprach nach des
Apostels Ueberzeugung ein objectives Sachverhältnis nicht. Das Gesetz ist, an
sich betrachtet, weder verpflichtend noch verschuldend. Vielmehr fühlt nur
das durch dasselbe bestimmte Bewusstsein sich verpflichtet und nothwendig
auch verschuldet, weil es rücksichtlich des Gesetzes und seiner
Erfüllbarkeit in einer Täuschung befangen ist. Dies ist 2 Cor. 3,
13 f. vom Apostel mit dürren Worten gesagt. Das κάλυμμα [Decke, Schleier],
welches den Israeliten den vorübergehenden provisorischen Charakter des Ge-
setzes verbarg, das Eingeständniss: έπωρώθη τά νοήματα αύτών [er verdunkel-
te ihren Sinn] zeigt deutlich genug, dass dem Apostel dieser Charakter der mo-
saischen Offenbarung feststand". Schopenhauer bietet folgende Version zur
Unerfüllbarkeit des Gesetzes: „Das Gesetz, ό νόμος, im biblischen Sinn, fordert
immerfort, daß wir unser Thun ändern sollen, während unser Wesen unverän-
dert bliebe. Weil aber dies unmöglich ist; so sagt Paulus, daß Keiner vor dem
Gesetz gerechtfertigt sei: die Wiedergeburt in Jesu Christo allein, in Folge der
Gnadenwirkung, vermöge welcher ein neuer Mensch entsteht und der alte auf-
gehoben wird (d. h. eine fundamentale Sinnesänderung), könne uns aus dem
Zustande der Sündhaftigkeit in den der Freiheit und Erlösung versetzen. Dies
ist der Christliche Mythos, in Hinsicht auf die Ethik" (WWV II, IV, 48. Kapitel,
Schopenhauer 1873, Bd. 2, 692).
N. macht aus der paulinischen Konstruktion des Übergangs von der jüdi-
schen Gesetzesfixierung zum Christentum etwas ganz anderes. Für ihn wird
Christus, wie ihn Paulus angeblich aufgrund einer plötzlichen Erleuchtung (ei-
nes „Einfalls") im Damaskuserlebnis begriff, zum paradoxen „Vernichter"
des Gesetzes durch dessen ,Erfüllung' im Kreuzestod (66, 32-67, 4). Zu N.s Ver-
nichtungsphantasien vgl. Μ 304 und NK hierzu. Wie sehr N. von seiner eige-
nen, in der Morgenröthe und weit darüber hinaus zentralen Idee einer Vernich-
tung der Moral ausgeht und diese Vorstellung auf Paulus projiziert, verraten
die Worte, mit denen er die - für ihn - entscheidende Erkenntnis des Paulus
charakterisiert: „die Moral ist fortgeblasen, vernichtet" (67, 7). Durch diese
Konstruktion einer Analogie möchte sich N. implizit als epochale Gestalt ver-
stehen. In seinen Spätschriften erhebt er diesen Anspruch dann auch explizit.
denchristen [im Unterschied zu den Heiden-Christen, zu denen Justinus gehör-
te] ist das Gesetz der gottgeordnete Weg zum Heil, daher zur Erfüllung durch
den Menschen bestimmt. / Nach Paulus ist es für den Menschen unerfüllbar;
verordnet nur, um Sünde zu bewirken" (Lüdemann 1972, 201). Und er unter-
streicht: „Es kann zunächst darüber kein Zweifel herrschen, dass die Unerfüll-
barkeit des Mosaischen Gesetzes für Paulus ein Axiom war, das er zu keiner
Zeit und in keinem seiner Briefe aus den Augen gelassen hat (Gal. 3, 19. 1 Cor.
15, 56. 2 Cor. 3, 6 ff. Röm. 5, 20)" (Lüdemann 1972, 204). Der nächste Schritt
in Lüdemanns Analyse: „Dem gesetzlichen Bewusstsein entsprach nach des
Apostels Ueberzeugung ein objectives Sachverhältnis nicht. Das Gesetz ist, an
sich betrachtet, weder verpflichtend noch verschuldend. Vielmehr fühlt nur
das durch dasselbe bestimmte Bewusstsein sich verpflichtet und nothwendig
auch verschuldet, weil es rücksichtlich des Gesetzes und seiner
Erfüllbarkeit in einer Täuschung befangen ist. Dies ist 2 Cor. 3,
13 f. vom Apostel mit dürren Worten gesagt. Das κάλυμμα [Decke, Schleier],
welches den Israeliten den vorübergehenden provisorischen Charakter des Ge-
setzes verbarg, das Eingeständniss: έπωρώθη τά νοήματα αύτών [er verdunkel-
te ihren Sinn] zeigt deutlich genug, dass dem Apostel dieser Charakter der mo-
saischen Offenbarung feststand". Schopenhauer bietet folgende Version zur
Unerfüllbarkeit des Gesetzes: „Das Gesetz, ό νόμος, im biblischen Sinn, fordert
immerfort, daß wir unser Thun ändern sollen, während unser Wesen unverän-
dert bliebe. Weil aber dies unmöglich ist; so sagt Paulus, daß Keiner vor dem
Gesetz gerechtfertigt sei: die Wiedergeburt in Jesu Christo allein, in Folge der
Gnadenwirkung, vermöge welcher ein neuer Mensch entsteht und der alte auf-
gehoben wird (d. h. eine fundamentale Sinnesänderung), könne uns aus dem
Zustande der Sündhaftigkeit in den der Freiheit und Erlösung versetzen. Dies
ist der Christliche Mythos, in Hinsicht auf die Ethik" (WWV II, IV, 48. Kapitel,
Schopenhauer 1873, Bd. 2, 692).
N. macht aus der paulinischen Konstruktion des Übergangs von der jüdi-
schen Gesetzesfixierung zum Christentum etwas ganz anderes. Für ihn wird
Christus, wie ihn Paulus angeblich aufgrund einer plötzlichen Erleuchtung (ei-
nes „Einfalls") im Damaskuserlebnis begriff, zum paradoxen „Vernichter"
des Gesetzes durch dessen ,Erfüllung' im Kreuzestod (66, 32-67, 4). Zu N.s Ver-
nichtungsphantasien vgl. Μ 304 und NK hierzu. Wie sehr N. von seiner eige-
nen, in der Morgenröthe und weit darüber hinaus zentralen Idee einer Vernich-
tung der Moral ausgeht und diese Vorstellung auf Paulus projiziert, verraten
die Worte, mit denen er die - für ihn - entscheidende Erkenntnis des Paulus
charakterisiert: „die Moral ist fortgeblasen, vernichtet" (67, 7). Durch diese
Konstruktion einer Analogie möchte sich N. implizit als epochale Gestalt ver-
stehen. In seinen Spätschriften erhebt er diesen Anspruch dann auch explizit.