Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 68-69 157
diesen Niedergang psychologisierend aus der „Müdigkeit" (69, 20) herzuleiten,
die sich nach einer langen Erfolgsgeschichte in Rom ausgebreitet habe. Das
Leitmotiv „Müdigkeit" (vgl. auch M 575, 331, 14 f.) entspricht der in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts grassierenden Fin-de-siecle-Stimmung, die
auch dazu führte, dass „Müdigkeit" zu einem Schlagwort avancierte. Schon in
Menschliches, Allzumenschliches I 249, thematisiert N. eine Kulturmüdigkeit,
die er mit dem Gefühl des Epigonentums in Verbindung bringt: „An der Ver-
gangenheit der Cultur leiden. - Wer sich das Problem der Cultur klar
gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen
durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der
Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an
seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft,
Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft
mit einer tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zu-
kunft sieht er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden
an der Vergangenheit leiden wie er" (KSA 2, 207, 2-12).
In der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II, die N. 1886 für die
Neu-Ausgabe dieses Werks verfasste, macht er ,Müdigkeit' zu einem anapho-
risch pointierten persönlichen Hauptmotiv seiner Loslösung von Wagner und
von dessen der Sphäre der Romantik zugehörigen Musik. N. inszeniert sich
mit beträchtlichem rhetorischem Aufwand in der Rolle des - nach einem Wort
Heinrich Heines - „Romantique defroque", des desillusionierten, enttäuschten
Romantikers: „Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und
ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäu-
schung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb,
über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend, Liebe; müde
aus Ekel vor dem Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Ro-
mantik, vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichli-
chung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetra-
gen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines uner-
bittlichen Argwohns, - dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei,
tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein" (KSA 2, 372, 17-
29). Ja, N. spricht davon, dass er „gegen den Pessimismus der Lebensmüdig-
keit" ankämpfen musste (375, 29). Zu N.s Selbstreflexion seiner früheren pessi-
mistischen „Romantik" vgl. auch FW 370 (KSA 3, 619-622).
69, 14 „,aere perennius'": N. interpretiert hier einen von ihm in Roms mo-
numentalen Bauten vermuteten „Hintergedanken" mit einer Wendung aus ei-
ner Ode des Horaz (carmina III, 30, 1), in der dieser selbstbewusst die zeitüber-
dauernde Qualität seiner Dichtung hervorhebt: sie sei „beständiger als Erz"
(„aere perennius"). Vgl. hierzu auch NK zu 13, 20.
diesen Niedergang psychologisierend aus der „Müdigkeit" (69, 20) herzuleiten,
die sich nach einer langen Erfolgsgeschichte in Rom ausgebreitet habe. Das
Leitmotiv „Müdigkeit" (vgl. auch M 575, 331, 14 f.) entspricht der in den letzten
Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts grassierenden Fin-de-siecle-Stimmung, die
auch dazu führte, dass „Müdigkeit" zu einem Schlagwort avancierte. Schon in
Menschliches, Allzumenschliches I 249, thematisiert N. eine Kulturmüdigkeit,
die er mit dem Gefühl des Epigonentums in Verbindung bringt: „An der Ver-
gangenheit der Cultur leiden. - Wer sich das Problem der Cultur klar
gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen
durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der
Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an
seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft,
Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft
mit einer tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zu-
kunft sieht er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden
an der Vergangenheit leiden wie er" (KSA 2, 207, 2-12).
In der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II, die N. 1886 für die
Neu-Ausgabe dieses Werks verfasste, macht er ,Müdigkeit' zu einem anapho-
risch pointierten persönlichen Hauptmotiv seiner Loslösung von Wagner und
von dessen der Sphäre der Romantik zugehörigen Musik. N. inszeniert sich
mit beträchtlichem rhetorischem Aufwand in der Rolle des - nach einem Wort
Heinrich Heines - „Romantique defroque", des desillusionierten, enttäuschten
Romantikers: „Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und
ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäu-
schung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb,
über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoffnung, Jugend, Liebe; müde
aus Ekel vor dem Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Ro-
mantik, vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichli-
chung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetra-
gen hatte; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines uner-
bittlichen Argwohns, - dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei,
tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein" (KSA 2, 372, 17-
29). Ja, N. spricht davon, dass er „gegen den Pessimismus der Lebensmüdig-
keit" ankämpfen musste (375, 29). Zu N.s Selbstreflexion seiner früheren pessi-
mistischen „Romantik" vgl. auch FW 370 (KSA 3, 619-622).
69, 14 „,aere perennius'": N. interpretiert hier einen von ihm in Roms mo-
numentalen Bauten vermuteten „Hintergedanken" mit einer Wendung aus ei-
ner Ode des Horaz (carmina III, 30, 1), in der dieser selbstbewusst die zeitüber-
dauernde Qualität seiner Dichtung hervorhebt: sie sei „beständiger als Erz"
(„aere perennius"). Vgl. hierzu auch NK zu 13, 20.