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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0181
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166 Morgenröthe

Unendliche aber läßt es zu keiner festen Begründung des Gesuchten kommen,
weil jedes Glied des Beweises immer erst wieder von dem folgenden seine Be-
glaubigung empfängt und so fort ins Unendliche" (Diogenes Laertius IX 88).
N. blieb noch über die Zeit der Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft
hinaus an der Skepsis interessiert. Für seine persönliche Bibliothek erwarb er
ein 1887 erschienenes Werk über die antike Skepsis, das bis heute grundlegend
ist: Victor Brochard: Les sceptiques grecs (1887). Noch in Ecce homo ,Warum
ich so klug bin' 3 geht N. auf Brochard und die Skeptiker ein: „Eine ausgezeich-
nete Studie von Victor Brochard, les Sceptiques Grecs, in der auch meine Laer-
tiana gut benutzt sind. Die Skeptiker, der einzige ehrenwerthe Typus unter
dem so zwei- bis fünfdeutigen Volk der Philosophen! ..." (KSA 6, 284, 27-30).
In einem nachgelassenen Notat aus der Zeit der Morgenröthe reflektiert N.
die Skepsis historisch: als Spätzeit-Phänomen. In dieser historischen Diagnose
wendet sich der radikal skeptisch gewordene Intellekt gegen sich selbst, mit
der fatalen Konsequenz von „Erschöpfung" und geistigem „Greisenthum":
„Unsere Triebe toben sich in den Listen und Künsten der Metaphysiker aus,
sie sind die Apologeten des menschlichen Stolzes: die Menschheit kann
ihre verlorenen Götter nicht verschmerzen! Gesetzt, diese Leidenschaft rast
sich aus: welcher Zustand der Ermattung, der Blässe, der erloschenen Blicke!
Das höchste Mißtrauen gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe [Schopen-
hauers Position, vgl. NK M 539 und NK M 553]: die Nachgeburt des Stolzes ist
die Skepsis. Die peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lügnerei.
Es ist eine letzte Rache, in dieser Selbstzermalmung ist der Mensch im-
mer noch der Gott, der sich selber verloren hat. Was folgt auf diese gewaltsame
Skepsis? Die Erschöpfung, die zweite Erschöpfung, ein Greisenthum: alle Ver-
gangenheit wird matt empfunden, die Verzweiflung selber wird zur Historie,
und zuletzt ist das Wissen um alle diese Dinge noch ein genügender Reiz für
diese Greise. -" (6[31], KSA 9, 200, 5-19)
In Jenseits von Gut und Böse (Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten, JGB 208-
210) rückt N. die Skepsis und die Skeptiker in die Perspektive einer spätzeitlich
dekadenten „Krankheit des Willens" (139, 5), die damals schon als „europä-
ische Krankheit" galt. Er adaptiert die ebenfalls modische Rede von den Nerven
und der Nervenschwäche (zum Höhepunkt gedieh sie bei den Brüdern Gon-
court), den modischen Physiologismus sowie die Rassenlehre des Grafen Gobi-
neau: „Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen
physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nerven-
schwäche und Kränklichkeit nennt; sie entsteht jedes Mal, wenn sich in ent-
scheidender und plötzlicher Weise lang von einander abgetrennte Rassen oder
Stände kreuzen" (KSA 5, 138, 11-15). Gegen diese so interpretierte Skepsis setzt
er die „Reinlichkeit und Strenge" der „Philosophen der Zukunft" (143, 26 f.),
 
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