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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0186
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 80-81 171

führt wie das Johannes-Evangelium den Geist als wirkende Kraft an: Gott „ret-
tete uns durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung (παλιγγενείας καί
άνακαινώσεως) des Heiligen Geistes, den er reichlich über uns ausgoß".
Im Bereich des Pietismus wird die „Wiedergeburt" zu einem zentralen Be-
griff: zum Ausdruck eines Erweckungs- und Bekehrungserlebnisses, das sich
fern von kirchlich-institutionalisierter Frömmigkeit im menschlichen Innern
ereignet, dieses tiefgreifend verändert und als individuelle Gotteserfahrung
den Menschen erneuert. Daraus erst könne sich auch eine neue Sittlichkeit
herleiten. In der pietistischen Erbauungsliteratur gehen zahlreiche Schriften
auf eine derartige „Wiedergeburt" ein. Jacob Spener veröffentlichte 1696 unter
dem Titel Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt 66 Wochenpredigten,
die er von 1691 bis 1694 in Berlin gehalten hatte. Darin heißt es: „was uns zu
Christen macht / ist der innere neue mensch [...] eine neue creatur. Diese muß
erstlich in der wiedergeburt gewircket seyn" (Spener 1696, 66). Spener führt
die Wiedergeburt zwar auf die verborgene Wirkung der Taufe zurück, bestreitet
aber die kirchliche Auffassung von der Unverlierbarkeit der Taufwiedergeburt.
August Hermann Francke hebt auf das Bekehrungserlebnis und den Bußkampf
ab. Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, der Begründer der Herrnhuter Brü-
dergemeinde, sieht in seinem frühen Katechismus Gewisser Grund (Leipzig
1725) die Wiedergeburt eng mit der Taufe verbunden, versteht sie jedoch als
einen fortdauernden Prozess und betont, dass die Wiedergebornen an ihren
Werken zu erkennen seien. John Wesley (1703-1791), der Begründer der metho-
distischen Reformgemeinde, für den sich N. in M 325 speziell interessiert (vgl.
ΝΚ hierzu), unterscheidet die Wiedergeburt ausdrücklich von der Taufe und
zählt sie, nach der ,Rechtfertigung', zu den „fundamental doctrines". Für ihn
ist die Wiedergeburt „that great change which God works in the soul" (Wesley,
Bd. II, 193). Das am weitesten ausgreifende Werk: Johann Henrich Reitz: Histo-
rie der Wiedergebohrnen (1724, zuerst: 1717). N. verwendete den ihm aus dem
pietistischen Milieu bekannten Begriff der „Wiedergeburt" metaphorisch in der
Geburt der Tragödie, indem er leitmotivisch die „Wiedergeburt der Tragödie"
bei Richard Wagner feierte.
N. kannte auch die Interpretation der „Wiedergeburt", die Schopenhauer
in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung I gibt, um sie in seinen
eigenen Denkhorizont einzufügen. Er spricht von der „Gnadenwirkung" (N.
vom „Wunder"), die nach kirchlicher Lehre die alte Verfassung des Menschen
so radikal aufhebt, dass geradezu eine „Wiedergeburt" zu einem ganz neuen
Dasein stattfindet. Schopenhauer fährt fort: „In diesem Sinn ist also das alte,
stets bestrittene und stets behauptete Philosophem von der Freiheit des Wil-
lens nicht grundlos, und auch das Dogma der Kirche von der Gnadenwirkung
und Wiedergeburt nicht ohne Sinn und Bedeutung. Aber wir sehn unerwartet
 
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