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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0187
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172 Morgenröthe

jetzt Beide in Eins zusammenfallen, und können nunmehr auch verstehn, in
welchem Sinn der vortreffliche Malebranche sagen konnte: ,La liberte est un
mystere', und Recht hatte. Denn eben Das, was die Christlichen Mystiker die
Gnadenwirkung und Wiedergeburt nennen, ist uns die einzige unmit-
telbare Aeußerung der Freiheit des Willens. Sie tritt erst ein, wann der
Wille, zur Erkenntniß seines Wesens an sich gelangt, aus dieser sein Quietiv
erhält und eben dadurch der Wirkung der Motive entzogen wird, welche im
Gebiet einer andern Erkenntnißweise liegt, deren Objekte nur Erscheinungen
sind". Schopenhauer schließt diese Betrachtung mit den Worten ab: „Und weil
in Folge solcher Gnadenwirkung das ganze Wesen des Menschen von Grund
aus geändert und umgekehrt wird, so daß er nichts mehr will von Allem, was
er bisher so heftig wollte, also wirklich ein neuer Mensch an die Stelle des
alten tritt, nannte sie [die Kirche] diese Folge der Gnadenwirkung die Wie-
dergeburt. Denn was sie den natürlichen Menschen nennt, dem sie
alle Fähigkeit zum Guten abspricht, das ist eben der Wille zum Leben, welcher
verneint werden muß, wenn Erlösung aus einem Daseyn, wie das unserige ist,
erlangt werden soll. Hinter unserm Daseyn steckt etwas Anderes, welches uns
erst dadurch zugänglich wird, daß wir die Welt abschütteln." (WWV I, Viertes
Buch, § 70: „Bejahung und Verneinung des Willens", Schopenhauer 1873,
Bd. 2, 477-479)
81, 18-20 Im neuen Testament ist der Kanon der Tugend, des erfüllten Gesetzes
aufgestellt: aber so, dass es der Kanon der unmöglichen Tugend ist] Das
Neue Testament stellt u. a. Laster- und Tugendkataloge zur sittlichen Ermah-
nung der jungen Christengemeinden nebeneinander. Der Galaterbrief des Pau-
lus beispielsweise warnt vor „Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid,
Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord, / Saufen, Fressen und dergleichen,
von welchen ich habe zuvor gesagt und sage noch zuvor, daß, die solches tun,
werden das Reich Gottes nicht erben. / Die Frucht aber des Geistes ist Liebe,
Freude, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuschheit"
(Gal. 5, 20-22). N. lässt eine zentrale Stelle im Römerbrief außer Acht: „Die
(vollendende) Erfüllung des Gesetzes ist die Liebe" (πλήρωμα ούν νόμου ή
άγάπη, Röm. 13, 11).
82, 4-12 Die Frage, was das als Wiedergeburt verstandene Erlebnis „physiolo-
gisch zu bedeuten habe" (82, 7), gehört zu der von N. in der Morgenröthe immer
wieder in aufklärerischer Absicht unternommenen Rückführung ,moralischer',
insbesondere religiöser Phänomene auf Physiologisches; hierzu der Kommen-
tar S. 54-56. Die Vermutung, „ob vielleicht eine maskirte Epilepsie" anzuneh-
men sei, der Hinweis auf die Zuständigkeit der „Irrenärzte" und die „Mordma-
nie" - all dies geht auf das Werk eines englischen Psychiaters zurück, das N.
 
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