Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0189
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
174 Morgenröthe

ben, d. h. wachsen in der Furcht Gottes, im Glauben, in der Liebe zum Nächs-
ten und in ähnlichen geistlichen Tugenden'. VIII ,von den Menschensatzungen'
sagt: ,Sodann werden die Gebote Gottes verdunkelt; diese Werke (Fasten etc.)
massen sich den Titel eines vollkommenen und geistlichen Lebens an und wer-
den weit vorgezogen den Werken der Gebote Gottes, als den Werken des eige-
nen Berufes eines jeden, der Verwaltung des Staates, dem wirthschaftlichen
Leben (administrationi oeconomiae), dem ehelichen Leben, der Kindererzie-
hung" (Baumann 1879, 379 f.; Hinweis in: Orsucci 1996, 359). Während N. hier
paraphrasierend und frei umformulierend verfährt, übernimmt er den abschlie-
ßend in Anführungszeichen gesetzten Satz (83, 1-4) fast wörtlich. Das in der
Morgenröthe mehrmals exponierte Plädoyer gegen die vita contemplativa und
für die vita activa ist ein auch schon von Baumann - wenngleich mit ganz
anderer Intention - immer von Neuem traktiertes Thema. So schreibt dieser
S. 206: „Die Reformation brachte die grosse Erlösung, dass sie die Gottwohlge-
fälligkeit jedes nützlichen Berufes lehrte, also die gewerbthätigen Nationen des
Nordens von dem Druck befreite, der auf solchen Gemüthern lasten musste,
wo ihnen nach mittelalterlicher Doctrin das contemplative Leben als der einzig
wahre Gottesdienst gepredigt wurde" (Baumann 1879, 206). Baumann resü-
miert: „Der weitgreifende Unterschied katholischer und protestantischer Moral
wäre also dahin zu formuliren, dass dort das beschauliche Leben unter mög-
lichster Zurückziehung vom activen das Höchste ist, hier das active Leben,
aber durchdrungen von Glaube und Liebe Gottes, das einzig Richtige ist" (Bau-
mann 1879, 380 f.). Bezeichnenderweise vermeidet N. sowohl die ökonomisch-
utilitaristischen wie die im engeren Sinn religiösen Tendenzen von Baumanns
Darlegungen zur vita contemplativa und zur vita activa. In Luthers Deutschem
Katechismus heißt es zum „Beschlus der zehen gepot": „Kein gut werck äusser
den zehen gepoten", und es ist die Rede von „Heuchler vermessenheit" (Luther
1910, 178 f.).
89
83, 6 Zweifel als Sünde.] Der erste Satz: „Das Christenthum hat das Äus-
serste gethan, um den Cirkel zu schliessen und schon den Zweifel für Sünde
erklärt" (83, 6-8) trifft auf das Neue Testament zwar nicht zu, da in diesem
der religiöse Zweifel (desperatio: Zweifel an Gottes Gnade als Sünde wider den
Heiligen Geist) keine Rolle spielt. Luther aber schreibt: „Zweifel ist Sünde und
ewiger Tod" (Luther 1853, Bd. 58, 256). In Goethes Faust II sagt der als Vertreter
der konservativen geistlichen Autorität sprechende Kanzler des Reichs: „Natur
ist Sünde, Geist ist Teufel, / Sie hegen zwischen sich den Zweifel, / Ihr mißge-
staltet Zwitterkind" (V. 4900-4902).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften