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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0201
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186 Morgenröthe

philanthropischen und optimistischen Fortschrittsdenken der Aufklärung re-
sultierte, hatte John Stuart Mill durch einen am Wohle aller Menschen interes-
sierten Utilitarismus aktualisiert. Dagegen wendet sich N., indem er die „letz-
tens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller" (94, 8 f.) ironisiert.
John Stuart Mill hatte im Anschluss an aufklärerische Theoriebildungen
ausdrücklich „das allgemeine Glück aller" zum „ethischen Maßstab" erklärt.
Diesen Grundsatz vertrat er in seinem (erstmals 1863 in englischer Sprache
erschienenen und 1869 erstmals im Rahmen der deutschen Gesamtausgabe
übersetzten) Utilitarianism. Das auch an die grundlegenden Ausführungen des
Aristoteles zum menschlichen Glücksstreben (Nikomachische Ethik I 2, 1095;
Rhetorik I 5, 1360b) erinnernde Fazit Mills im 4. Kapitel von Utilitarianism lau-
tet: „Aus den vorhergehenden Betrachtungen folgt, daß in Wirklichkeit nichts
Anderes gewünscht wird als Glückseligkeit. Was sonst noch in einer andern
Weise denn als ein Mittel zu einem außerhalb der Sache liegenden Zwecke und
schließlich zur Glückseligkeit gewünscht wird, wird insofern gewünscht, als es
ein Bestandtheil der Glückseligkeit ist, und wird für sich selbst nicht ge-
wünscht, wenn es nicht zu einem solchen geworden ist" (Mill 1869, Bd. 1, 170).
N. besaß diese Übersetzung in seiner persönlichen Bibliothek. Den optimisti-
schen Zukunftsperspektiven auf das „Glück aller" hatte er - vom Standpunkt
des Schopenhauer'schen Pessimismus aus - schon in der Geburt der Tragödie
die entschiedene Ablehnung des menschlichen Glücksanspruchs entgegenge-
setzt, und zwar im Hinblick auf die damit verbundenen demokratischen und
sozialen Forderungen (GT 18, KSA 1, 117, 11-14).
In dem hier zu erörternden Text der Morgenröthe opponiert er gegen den
Fortschrittsglauben und das Glücksstreben mit einem pessimistischen Deka-
denzmodell. Wie schon in mehreren früheren Texten (Μ 23, M 26, M 30) ope-
riert er dabei mit der Vorstellung einer „Verfeinerung", die er hier als „Verfeine-
rung der Sittlichkeit" (94, 12) und als Grund wachsender Unzufriedenheit ver-
stehen will. Abschließend stellt er die rhetorische Frage, ob nicht gerade die
Moral, insofern sie als eine ebenso unbedingte wie unerfüllbare Forderung den
Menschen bedrückt, einen Grund für „tiefste Unseligkeit" bilde. Er ver-
sucht diese Vermutung mit einem indirekten Hinweis auf Pascal zu untermau-
ern: „Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der ein-
zig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste
Unseligkeit" (94, 14-17). Pascal legte solche Gedanken gerade in dem Ab-
schnitt seiner Pensees dar, der dem für N. in der Morgenröthe besonders wichti-
gen Thema des „amour-propre" gilt und zu der übergreifenden Erörterung des
menschlichen Elends, der ,Misere de l'homme' gehört. Vgl. die bibliographi-
schen Angaben in NK M 91 zum französischen Pascal-Text und zur deutschen
Übersetzung, die N. in seiner persönlichen Bibliothek hatte.
 
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