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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0205
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190 Morgenröthe

eines Appetites sein' - schrieb Byron in sein Tagebuch.") aus der Ausgabe, die
er in seiner persönlichen Bibliothek besaß: Byron o. J., Bd. 2, 31. Zum überge-
ordneten Thema der „Triebe" und zum historischen Kontext vgl. die Ausfüh-
rungen über den Menschen als Produkt seiner „Triebe" in Μ 119.
110
99, 7 Das, was sich widersetzt.] Die im ersten Satz hervorgehobene Me-
thode des Beobachtens „an sich" gestaltet N. im 5. Buch zum Konzept einer
experimentellen Psychologie und Philosophie aus. In M 453 ruft er aus: „Wir
sind Experimente: wollen wir es auch sein!" (274, 24) Schon im 18. Jahrhundert
hatte Karl Philipp Moritz ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde herausgege-
ben, das die experimentelle Psychologie auf der Basis von ,Beobachtung' pro-
pagierte. Nachdem N. in früheren Texten der Morgenröthe, so in der unmittel-
bar vorausgehenden M 109, das komplexe Verhältnis von „Trieb", „Lust" und
„Moral" untersucht hatte, führt er diese Überlegungen hier weiter. Die aus zeit-
genössischen Schriften aufgegriffene Annahme einer „vererbten moralischen
Anlage" erörtert N. in der Reinschrift von M 18: „wir sind die Erben jahrtausen-
delanger Gewohnheiten des Gefühls und vermögen nur äußerst langsam dieses
Erbe loszuwerden" (KSA 14, 204 f.). In der Vorstufe zu M 34 problematisiert N.
diese Theorie: „Ob es Vererbung moralischer Gefühle giebt? Zunächst möchte
man sich gegen die Theorie der Vererbung so lange wehren als es geht" (KSA
14, 205). In der Schrift Jenseits von Gut und Böse wirft N. die hier gegen die
Vererbung ,moralischer' Dispositionen erhobenen Bedenken über Bord (Neun-
tes Hauptstück: was ist vornehm?, JGB 264), weil er nun „Vornehmheit" auf die
„Rasse" zurückführt, die sich angeblich - damit folgt er Gobineau - in der
sozialen Schichtung widerspiegelt, so dass diese als naturhaft vererbt erscheint
und die Aristokratie legitimiert, während das Volk - für N. nur „Pöbel" - als
erblich minderwertig erscheint und entsprechend behandelt werden soll: ein
Plädoyer gegen Demokratie und Gleichberechtigung, wie überhaupt gegen
Menschenrechte. Dies entspricht einer sich durch alle Schriften N.s gehenden
Einstellung. „Es ist gar nicht möglich", schreibt er, „dass ein Mensch nicht
die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe:
was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse
[...] mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen,
über eine solche Vererbung zu täuschen. - Und was will heute Erziehung
und Bildung Anderes! In unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften
Zeitalter muss ,Erziehung' und ,Bildung' wesentlich die Kunst, zu täuschen,
sein, - über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu
täuschen" (KSA 5, 219, 3-18).
 
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