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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0220
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 117-118 205

in Träumen schon / der Mutter beigelegen. Doch wem alles dies / für nichts
gilt, trägt des Lebens Last am leichtesten" (König Ödipus, V. 981-983). In der
Tragödie des Sophokles wird Ödipus mehrere Male als der „weise" Ödipus be-
zeichnet, weil er als einziger das Rätsel der Sphinx zu lösen vermag. Aber So-
phokles gibt durch den Verlauf des Geschehens zu verstehen, dass Ödipus
nicht einmal weiß, wer er selber ist, weil er seine Herkunft nicht kennt. Inso-
fern erscheint er im Wesentlichen gerade nicht als „weise" und ist daher dem
Schicksal verfallen. N. vernachlässigt diesen Zusammenhang, um - in parado-
xalem Gegensatz zu seinem Ausgangsbefund, nichts sei so sehr „euer Eigen,
als eure Träume" (117, 26) - zu der Aussage zu gelangen, „dass der weise Oedi-
pus Recht hatte, dass wir wirklich nicht für unsere Träume [...] verantwortlich
sind", ja er fügt noch hinzu: „ebenso wenig für unser Wachen" (118, 6-9).
Im übergeordneten Horizont des Angriffs auf die „moralischen Vorurthei-
le" soll die These von der fundamentalen Unverantwortlichkeit des Menschen
die ,Moral' generell als bloßes Vorurteil erscheinen lassen. Bereits in Menschli-
ches, Allzumenschliches I hatte N. die „völlige Unverantwortlichkeit des Men-
schen für sein Handeln und Wesen" und damit die Verfehltheit moralischer
Wertungen statuiert (MA I 107, KSA 2, 103-106; analog MA I 39, MA I 105, MA I
133 am Schluss). Mit der bis in die Antike zurückreichenden und in der Neuzeit
fortgesetzten Diskussion über die Freiheit des Willens, die für das Problem der
,Moral' und der moralischen Verantwortlichkeit von zentraler Bedeutung ist,
war N. vor allem durch Schopenhauer bekannt geworden: durch dessen Preis-
schrift über die Freiheit des Willens, gekrönt von der Königlich Norwegischen
Societät der Wissenschaften, zu Drontheim, am 26. Januar 1839 (Schopenhauer
1874, Bd. 4, Teil 2, 3-102). Die zeitgenössische Literatur weist mit naturalisti-
schen Argumenten die Vorstellung von der Freiheit des Willens zurück. Ein
markantes Beispiel ist Ludwig Büchner, der Protagonist der Freidenker-Bewe-
gung. In seinem internationalen Bestseller Kraft und Stoff widmet er diesem
Thema ein eigenes Kapitel (Büchner 1876, 331-342).

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118, 14 Der angebliche Kampf der Motive.] Auch in diesem Text wehrt
N. die Vorstellung einer moralischen Verantwortlichkeit des Menschen für sei-
ne Handlungen ab, um die ,Moral' prinzipiell zu suspendieren. Sein Interesse
gilt hier den „Motiven" einer Handlung, zu denen er nicht primär die bewuss-
ten Intentionen zählt. Schon Schopenhauer hatte in seinem Hauptwerk Die
Welt als Wille und Vorstellung II die eigentlichen „Motive" des menschlichen
 
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