208 Morgenröthe
in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weitbilden-
de Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt
und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft" (KSA 1, 153, 11-17; vgl. den Kom-
mentar hierzu, der auch die Erweiterung des Heraklit-Fragments um die Vor-
stellung des „Sandhaufen aufbauenden und einwerfenden" Kindes vor einem
weiteren Traditionshintergrund erläutert).
In dem hier zu erörternden Text der Morgenröthe geht N. noch über das
Spiel der „Nothwendigkeit" mit den - scheinbaren - Zufällen hinaus, indem
er sogar unsere „Willensacte, unsere Zwecke" (122, 13) mit einem spekulativen
„Vielleicht" (122, 12 f.) dem Spiel der Notwendigkeit unterstellt, so „dass wir
selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel
der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht!" (122, 17-19) N. markiert die hiermit
vollzogene spekulative Überschreitung des Denkbaren, indem er abschließend
mit einer mythologisch aberranten Assoziation bemerkt: „Um über dieses
Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jen-
seits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone
mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben" (122, 19-22).
Persephone ist in der griechischen Mythologie die Tochter der Erd- und
Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und des höchsten Gottes Zeus. Nachdem sie vom
Totengott Hades in die Unterwelt entführt wurde und ihre Mutter Demeter ver-
zweifelt nach ihr suchte, erhielt Persephone von Zeus die Erlaubnis, während
der (Sommer-)Hälfte des Jahres auf die Erde zu ihrer Mutter zurückzukehren;
die (Winter-)Hälfte des Jahres musste sie aber in der Unterwelt zubringen. Für
die Griechen repräsentierte dieser Mythos das Absterben der Vegetation zu
Winterbeginn und ihre Wiedergeburt im Frühling. Ein Analogon stellt der
Fruchtbarkeitskult der Römer dar, bei denen die griechische Persephone zu
Proserpina, der griechische Unterweltsgott Hades zu Pluto wird. In einem für
seinen Umgang mit den alten Mythen insgesamt charakteristischen Verfahren
reduziert N. den Persephone-Mythos auf sein eigenes, dem griechischen My-
thos ganz fremdes Denkschema von (scheinhafter) Oberfläche und (wesenhaf-
ter) Tiefe und bestückt seine Rede von Persephone mit der unpassenden, aber
seine bisherigen Ausführungen weiter ausspinnenden Vorstellung vom „Wür-
feln" und „Wetten" am Tisch der Persephone in der Unterwelt. Schon früh hat-
te der Freund Erwin Rohde, den N. immer wieder um kritische Durchsicht sei-
ner Schriften bat, moniert: „Du verfolgst, so scheint mir, nicht ganz glückliche,
oft recht stark hinkende Bilder, zu weilen weiter, als für ihre Wirkung er-
sprießlich ist"; und nach einem Lob der lebendigen Sprache N.s fügt er hinzu:
„Nur im Durchfugiren wirklicher Bilder thust Du oft zu viel" (Erwin Rohde an
N. am 24. März 1874, KGB II 4, Nr. 525, S. 422 u. S. 423).
Bereits früher hatte sich N. für den Persephone-Mythos interessiert. Am
25. 10. 1875 entlieh er folgendes Buch aus der Universitätsbibliothek Basel: Ri-
in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weitbilden-
de Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt
und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft" (KSA 1, 153, 11-17; vgl. den Kom-
mentar hierzu, der auch die Erweiterung des Heraklit-Fragments um die Vor-
stellung des „Sandhaufen aufbauenden und einwerfenden" Kindes vor einem
weiteren Traditionshintergrund erläutert).
In dem hier zu erörternden Text der Morgenröthe geht N. noch über das
Spiel der „Nothwendigkeit" mit den - scheinbaren - Zufällen hinaus, indem
er sogar unsere „Willensacte, unsere Zwecke" (122, 13) mit einem spekulativen
„Vielleicht" (122, 12 f.) dem Spiel der Notwendigkeit unterstellt, so „dass wir
selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel
der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht!" (122, 17-19) N. markiert die hiermit
vollzogene spekulative Überschreitung des Denkbaren, indem er abschließend
mit einer mythologisch aberranten Assoziation bemerkt: „Um über dieses
Vielleicht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jen-
seits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone
mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben" (122, 19-22).
Persephone ist in der griechischen Mythologie die Tochter der Erd- und
Fruchtbarkeitsgöttin Demeter und des höchsten Gottes Zeus. Nachdem sie vom
Totengott Hades in die Unterwelt entführt wurde und ihre Mutter Demeter ver-
zweifelt nach ihr suchte, erhielt Persephone von Zeus die Erlaubnis, während
der (Sommer-)Hälfte des Jahres auf die Erde zu ihrer Mutter zurückzukehren;
die (Winter-)Hälfte des Jahres musste sie aber in der Unterwelt zubringen. Für
die Griechen repräsentierte dieser Mythos das Absterben der Vegetation zu
Winterbeginn und ihre Wiedergeburt im Frühling. Ein Analogon stellt der
Fruchtbarkeitskult der Römer dar, bei denen die griechische Persephone zu
Proserpina, der griechische Unterweltsgott Hades zu Pluto wird. In einem für
seinen Umgang mit den alten Mythen insgesamt charakteristischen Verfahren
reduziert N. den Persephone-Mythos auf sein eigenes, dem griechischen My-
thos ganz fremdes Denkschema von (scheinhafter) Oberfläche und (wesenhaf-
ter) Tiefe und bestückt seine Rede von Persephone mit der unpassenden, aber
seine bisherigen Ausführungen weiter ausspinnenden Vorstellung vom „Wür-
feln" und „Wetten" am Tisch der Persephone in der Unterwelt. Schon früh hat-
te der Freund Erwin Rohde, den N. immer wieder um kritische Durchsicht sei-
ner Schriften bat, moniert: „Du verfolgst, so scheint mir, nicht ganz glückliche,
oft recht stark hinkende Bilder, zu weilen weiter, als für ihre Wirkung er-
sprießlich ist"; und nach einem Lob der lebendigen Sprache N.s fügt er hinzu:
„Nur im Durchfugiren wirklicher Bilder thust Du oft zu viel" (Erwin Rohde an
N. am 24. März 1874, KGB II 4, Nr. 525, S. 422 u. S. 423).
Bereits früher hatte sich N. für den Persephone-Mythos interessiert. Am
25. 10. 1875 entlieh er folgendes Buch aus der Universitätsbibliothek Basel: Ri-