Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 123 211
tranquillitas animi) zu erreichen, aber er hatte auch die „Pflicht" (καθήκον)
gegenüber Anderen zu einem weiteren Hauptthema gemacht (vgl. Diogenes
Laertius VII, 108).
Der Begriff der Pflicht, den N. samt dem des Rechts schon in M 112: „Zur
Naturgeschichte von Pflicht und Recht" auf Machtverhältnisse re-
duzieren will, wurde dann von Cicero vom griechischen καθήκον in den lateini-
schen Begriff „officium" übertragen. Zentral wurde die ,Pflicht' in seiner Schrift
De officiis, die noch Kants Pflichtbegriff beeinflusste. Kant besaß Ciceros De
officiis in der Übersetzung von Christian Garve und studierte sogar den drei-
bändigen Kommentar Garves: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen
zu Cicero's Büchern von den Pflichten (1783). Der stoische Pflichtbegriff bezieht
sich auf naturgemäßes Verhalten gegenüber anderen Menschen: gegenüber El-
tern, Geschwistern, Kindern, aber auch gegenüber der gesamten menschlichen
Gemeinschaft, dem „Vaterland", das die Stoiker aber keineswegs restriktiv defi-
nieren. Sie verstehen sich vielmehr als Kosmopoliten, weil nach ihrem schon
von Zenon formulierten Basis-Axiom der (mit der „Natur" gleichgesetzte) Logos
die ganze Welt durchwaltet und zu einem großen Zusammenhang macht (Dio-
genes Laertius VII, 88). Wenn N. im folgenden Text (Μ 132) vermutet, „dass
der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaft-
lichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, - das ist viel-
leicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum
in Europa hervorgebracht hat" (123, 8-13), so lässt er außer Acht, dass es hierzu
nicht einer christlichen „Umstimmung" bedurfte, die im Gegensatz zu der von
N. implizit unterstellten vorchristlich-antiken Wertung steht. Denn gerade die
„gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen" gehören zur stoischen
Ethik, besonders markant in der römischen Stoa. Dies gilt auch für die von N.
so genannten „sympathischen" Handlungen. Marc Aurel, der griechisch schrei-
bende Stoiker auf dem römischen Kaiserthron, hatte in seinen Selbstgesprä-
chen (τά εις έαυτόν) insbesondere die „Sympathie", die alle Wesen aufgrund
der ihnen gemeinsamen Natur verbindet (συμπάθεια τών όλων), zu einer zen-
tralen Vorstellung erhoben und daraus eine dezidierte Verantwortungsethik
abgeleitet. N.s Wendung gegen die „gemeinnützigen, gesellschaftlichen Hand-
lungen" ist letztlich motiviert durch seine ganz auf die zeitgenössische Aktuali-
tät bezogene antisoziale und antidemokratische Grundeinstellung, die ihn be-
sonders gegen den alsbald - gleich in M 132 - genannten John Stuart Mill
aufbrachte (123, 29).
132
123, 5 f. Die ausklingende Christlichkeit in der Moral.] Hier beginnt
die bis zu M 147 reichende Sequenz von Texten, die sich gegen das von Rous-
tranquillitas animi) zu erreichen, aber er hatte auch die „Pflicht" (καθήκον)
gegenüber Anderen zu einem weiteren Hauptthema gemacht (vgl. Diogenes
Laertius VII, 108).
Der Begriff der Pflicht, den N. samt dem des Rechts schon in M 112: „Zur
Naturgeschichte von Pflicht und Recht" auf Machtverhältnisse re-
duzieren will, wurde dann von Cicero vom griechischen καθήκον in den lateini-
schen Begriff „officium" übertragen. Zentral wurde die ,Pflicht' in seiner Schrift
De officiis, die noch Kants Pflichtbegriff beeinflusste. Kant besaß Ciceros De
officiis in der Übersetzung von Christian Garve und studierte sogar den drei-
bändigen Kommentar Garves: Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen
zu Cicero's Büchern von den Pflichten (1783). Der stoische Pflichtbegriff bezieht
sich auf naturgemäßes Verhalten gegenüber anderen Menschen: gegenüber El-
tern, Geschwistern, Kindern, aber auch gegenüber der gesamten menschlichen
Gemeinschaft, dem „Vaterland", das die Stoiker aber keineswegs restriktiv defi-
nieren. Sie verstehen sich vielmehr als Kosmopoliten, weil nach ihrem schon
von Zenon formulierten Basis-Axiom der (mit der „Natur" gleichgesetzte) Logos
die ganze Welt durchwaltet und zu einem großen Zusammenhang macht (Dio-
genes Laertius VII, 88). Wenn N. im folgenden Text (Μ 132) vermutet, „dass
der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaft-
lichen Handlungen jetzt als der moralische empfunden wird, - das ist viel-
leicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum
in Europa hervorgebracht hat" (123, 8-13), so lässt er außer Acht, dass es hierzu
nicht einer christlichen „Umstimmung" bedurfte, die im Gegensatz zu der von
N. implizit unterstellten vorchristlich-antiken Wertung steht. Denn gerade die
„gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen" gehören zur stoischen
Ethik, besonders markant in der römischen Stoa. Dies gilt auch für die von N.
so genannten „sympathischen" Handlungen. Marc Aurel, der griechisch schrei-
bende Stoiker auf dem römischen Kaiserthron, hatte in seinen Selbstgesprä-
chen (τά εις έαυτόν) insbesondere die „Sympathie", die alle Wesen aufgrund
der ihnen gemeinsamen Natur verbindet (συμπάθεια τών όλων), zu einer zen-
tralen Vorstellung erhoben und daraus eine dezidierte Verantwortungsethik
abgeleitet. N.s Wendung gegen die „gemeinnützigen, gesellschaftlichen Hand-
lungen" ist letztlich motiviert durch seine ganz auf die zeitgenössische Aktuali-
tät bezogene antisoziale und antidemokratische Grundeinstellung, die ihn be-
sonders gegen den alsbald - gleich in M 132 - genannten John Stuart Mill
aufbrachte (123, 29).
132
123, 5 f. Die ausklingende Christlichkeit in der Moral.] Hier beginnt
die bis zu M 147 reichende Sequenz von Texten, die sich gegen das von Rous-