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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0227
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212 Morgenröthe

seau und Schopenhauer (wenn auch auf je verschiedene Weise) zur Grundlage
der Moral erklärte „Mitleid" wenden. Das Zitat zu Beginn: „On n'est hon que
par la pitie: il faut donc qu'il y ait quelque pitie dans tous nos sentiments"
(„Man ist nur gut durch das Mitleid: also muss es etwas Mitleid in allen unse-
ren Gefühlen geben") stammt aus einem Werk, das N. in seiner persönlichen
Bibliothek hatte: Joubert 1874, 72.
N.s Konstruktion der vermeintlichen Entwicklung der christlichen Ethik ist
problematisch, insbesondere die Behauptung, dass der „streng egoistische
Grundglaube an das ,Eins ist noth', an die absolute Wichtigkeit des ewigen
persönlichen Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zu-
rücktrat, und der Nebenglaube an die ,Liebe', an die ,Nächstenliebe', zusam-
menstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, da-
durch in den Vordergrund gedrängt wurde" (123, 15-21). Es ist übertrieben, die
Wichtigkeit des ewigen persönlichen Heils als streng „egoistischen" Grund-
glauben zu bezeichnen. Denn dieser Glaube beruhte auf der Hoffnung auf ein
Heil, das sich zwar auch an der Vorstellung einer individuellen, unsterblichen
Seele orientierte, zugleich aber sprechen die Briefe des Paulus und die Evange-
lien von der allgemein, ja für das „Volk" geltenden Heilsbotschaft. Sodann ist
die These verfehlt, dass dieser vorgeblich „egoistische" Glaube, mit den „Dog-
men, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die
,Liebe', an die ,Nächstenliebe' [...] dadurch in den Vordergrund gedrängt wur-
de". Denn schon in den frühesten christlichen Zeugnissen ist die Liebe nicht
ein „Nebenglaube", sondern fundamental, so im Preis der Liebe, den Paulus
im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs anstimmt:
„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe
nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. / Und wenn ich
weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte
allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre
ich nichts [...] Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe; diese drei; aber die
Liebe ist die größte unter ihnen."
Die von N. angeführte „Moralformel vivre pour autrui" (123, 27 f.) aus Com-
tes Discours sur l'Esprit positif kannte N. aus dem von ihm ausweislich der
Lesespuren intensiv studierten Aufsatz John Stuart Mills Auguste Comte und
der Positivismus: „Die goldene Regel der Moral in der Religion Hrn. Comte's
lautet: ,vivre pour autrui', für Andere zu leben. Anderen zu thun, wie wir wol-
len, daß man uns thue, und unsern Nächsten lieben wie uns selbst, dies genügt
ihm nicht; es hat dies, so meint er, noch immer zu viel vom Wesen persönlicher
Berechnung an sich. Wir sollten dahin trachten, uns selbst gar nicht zu lieben.
Wir werden dieses Ziel nicht ganz erreichen, aber wir sollten ihm möglichst
nahe zu kommen streben. Ihn befriedigt der Menschheit gegenüber nichts Ge-
 
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