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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0230
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Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 123 215

Schon in N.s frühen Texten hatte sich sein extremer Individualismus arti-
kuliert. Er favorisierte „die Geburt des Genius" (NL 1871, 10[l], KSA 7,
333, 11 f.) und eine auf Privilegien beruhende ästhetische „Kultur". Es sei natur-
gemäß, erklärte er, „daß die Triumphzüge der Kultur nur einer unglaublich
geringen Minderheit von bevorzugten Sterblichen zu Gute kommen, daß dage-
gen der Sklavendienst der großen Masse eine Nothwendigkeit ist, wenn es
wirklich zu einer rechten Werdelust der Kunst kommen soll" (NL 1871, 10[l],
KSA 7, 336, 17-22; analog und z. T. noch krasser die dritte von den Fünf Vorre-
den: Der griechische Staat aus dem Nachlass, KSA 1, 767, 25-769, 26). Schließ-
lich folgerte N.: „Das Elend der mühsam lebenden Masse muß noch gesteigert
werden, um einer Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt
zu ermöglichen" (NL 1871, 10[l], KSA 7, 339, 29-32). Obwohl er sich in seinen
frühen Schriften noch weitgehend an Schopenhauer orientierte, ließ er be-
zeichnenderweise beiseite, wie Schopenhauer die Sklaverei und auch die sozi-
alen Zustände in Deutschland beurteilte. In seinem Hauptwerk Die Welt als
Wille und Vorstellung I hatte Schopenhauer, auch im Hinblick auf die in der
Phase der Frühindustrialisierung verbreitete Ausbeutung von Kindern, ge-
schrieben: „Wie der Mensch mit dem Menschen verfährt, zeigt z. B. die Neger-
sklaverei, deren Endzweck Zucker und Kaffee ist. Aber man braucht nicht so
weit zu gehen: im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder
sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, dann 14 Stunden täglich
darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnü-
gen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millio-
nen, und viele andere Millionen haben ein analoges" (WWV I, Viertes Buch,
Kapitel 46: „Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens"; Schopenhauer
1873, Bd. 2, 663). Eine noch schärfere Stellungnahme Schopenhauers gegen die
Sklaverei, die auf einer von ihm zitierten Dokumentation der American Antisla-
very Society beruhte, steht in den Parerga und Paralipomena II, in § 114 der
Abhandlung Zur Ethik. Darin heißt es: „Dieses Buch macht eine der schwersten
Anklageakten gegen die Menschheit aus. Keiner wird es ohne Entsetzen, Weni-
ge ohne Thränen aus der Hand legen. Denn was der Leser desselben jemals
vom unglücklichen Zustande der Sklaven, ja von menschlicher Härte und
Grausamkeit überhaupt, gehört, oder sich gedacht, oder geträumt haben mag,
wird ihm geringfügig erscheinen, wenn er liest, wie jene Teufel in Menschenge-
stalt, jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden
Schurken, namentlich auch die Anglikanischen Pfaffen unter ihnen, ihre un-
schuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt
in ihre Teufelsklauen gerathen sind." (Schopenhauer 1874, Bd. 6, 227) 1863 hob
Lincoln die Sklaverei auf - in den USA gab es damals noch 4 Millionen schwar-
ze Sklaven. N. zeigte sich irritiert über diese Entwicklungen. Wenige Jahre nach
 
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