216 Morgenröthe
dem Abschluss der Morgenröthe notierte er: „Gegen die Aufhebung der
Sklaverei" (NL 1884/1885, 32[20], KSA 11, 417, 17). Noch in Ecce homo äußert
sich N. abfällig über die Absicht, „die Sklaven in Afrika zu befreien" (KSA 6,
361, 28 f.).
In einem Nachtrag, den er in Klammern setzt, beruft sich N. in seinen Aus-
führungen zum Mitleid in Μ 132 auf Kant: „(Kant steht noch ausserhalb dieser
Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich
sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, - was
Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Ab-
geschmacktheit nennt.)" (125, 1-6). N., der die meisten Philosophen, die
er nennt, nur aus der Lektüre von Philosophiegeschichten kannte, hatte kein
Werk Kants in seiner persönlichen Bibliothek, er rezipierte in Ausschnitten nur
sekundäre Werke über Kant, vor allem Kuno Fischers Geschichte der neuern
Philosophie, Bd. 3 u. 4: Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der
Kantischen Philosophie (1860), außerdem waren ihm die zahlreichen Kant-Be-
züge in Schopenhauers Werken bekannt. Die hier von N. skizzierte Ansicht
entspricht nur im Ansatz der von der stoischen Tradition ausgehenden Bewer-
tung des Mitleids durch Kant, der hierbei vor allem auf Seneca zurückgriff.
Dessen Schrift De clementia verteidigte die stoische Ablehnung des Mitleids
gegen die auch schon zu seiner Zeit verbreiteten Vorwürfe inhumaner Harther-
zigkeit. Seneca erläutert die grundsätzliche stoische Ablehnung der „misericor-
dia", des Mitleids, sofern es zu einer Fehlhaltung (vitium) der Seele, ja zu einer
Seelenkrankheit (aegritudo animi) wird, die den Weisen ebensowenig befällt
wie das andere Extrem, die Grausamkeit. Das Mitleid, das lediglich eine Anste-
ckung durch das Leiden anderer bleibt, schwäche den Menschen und behinde-
re eine tätige und besonnene Hilfeleistung. Gerade sie aber zeichne den Weisen
aus. Nur weil er nicht innerlich angegriffen und emotional verwirrt wird, weiß
er sofort hilfreichen Rat zu schaffen („in expedito consilium habet") (Seneca
1989, 22-25).
Kant hatte von dieser Version der stoischen Mitleidslehre genaue Kenntnis,
und er pflichtete ihr grundsätzlich bei, steuerte aber noch eine wichtige Diffe-
renzierung bei, indem er dem gefühlshaften Mitleid eine naturhafte initiieren-
de Funktion für die Hilfeleistung vor der Ausbildung der Vernunft zugestand.
In § 75 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht betont er wie Seneca zwar,
dass die Vernunft statt des Affekts bestimmend sein müsse, billigt aber der
„Weisheit der Natur" in der Form des Affekts eine vorläufige stimulierende Wir-
kung zu. Schließlich aber habe die Weisheit der Vernunft an die Stelle der
Weisheit der Natur zu treten, die ihr die Bahn bereitet hat: „Das Princip der
Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des
Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richti-
dem Abschluss der Morgenröthe notierte er: „Gegen die Aufhebung der
Sklaverei" (NL 1884/1885, 32[20], KSA 11, 417, 17). Noch in Ecce homo äußert
sich N. abfällig über die Absicht, „die Sklaven in Afrika zu befreien" (KSA 6,
361, 28 f.).
In einem Nachtrag, den er in Klammern setzt, beruft sich N. in seinen Aus-
führungen zum Mitleid in Μ 132 auf Kant: „(Kant steht noch ausserhalb dieser
Bewegung: er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfindlich
sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, - was
Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, die Kantische Ab-
geschmacktheit nennt.)" (125, 1-6). N., der die meisten Philosophen, die
er nennt, nur aus der Lektüre von Philosophiegeschichten kannte, hatte kein
Werk Kants in seiner persönlichen Bibliothek, er rezipierte in Ausschnitten nur
sekundäre Werke über Kant, vor allem Kuno Fischers Geschichte der neuern
Philosophie, Bd. 3 u. 4: Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der
Kantischen Philosophie (1860), außerdem waren ihm die zahlreichen Kant-Be-
züge in Schopenhauers Werken bekannt. Die hier von N. skizzierte Ansicht
entspricht nur im Ansatz der von der stoischen Tradition ausgehenden Bewer-
tung des Mitleids durch Kant, der hierbei vor allem auf Seneca zurückgriff.
Dessen Schrift De clementia verteidigte die stoische Ablehnung des Mitleids
gegen die auch schon zu seiner Zeit verbreiteten Vorwürfe inhumaner Harther-
zigkeit. Seneca erläutert die grundsätzliche stoische Ablehnung der „misericor-
dia", des Mitleids, sofern es zu einer Fehlhaltung (vitium) der Seele, ja zu einer
Seelenkrankheit (aegritudo animi) wird, die den Weisen ebensowenig befällt
wie das andere Extrem, die Grausamkeit. Das Mitleid, das lediglich eine Anste-
ckung durch das Leiden anderer bleibt, schwäche den Menschen und behinde-
re eine tätige und besonnene Hilfeleistung. Gerade sie aber zeichne den Weisen
aus. Nur weil er nicht innerlich angegriffen und emotional verwirrt wird, weiß
er sofort hilfreichen Rat zu schaffen („in expedito consilium habet") (Seneca
1989, 22-25).
Kant hatte von dieser Version der stoischen Mitleidslehre genaue Kenntnis,
und er pflichtete ihr grundsätzlich bei, steuerte aber noch eine wichtige Diffe-
renzierung bei, indem er dem gefühlshaften Mitleid eine naturhafte initiieren-
de Funktion für die Hilfeleistung vor der Ausbildung der Vernunft zugestand.
In § 75 der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht betont er wie Seneca zwar,
dass die Vernunft statt des Affekts bestimmend sein müsse, billigt aber der
„Weisheit der Natur" in der Form des Affekts eine vorläufige stimulierende Wir-
kung zu. Schließlich aber habe die Weisheit der Vernunft an die Stelle der
Weisheit der Natur zu treten, die ihr die Bahn bereitet hat: „Das Princip der
Apathie: daß nämlich der Weise niemals im Affect, selbst nicht in dem des
Mitleids mit den Übeln seines besten Freundes sein müsse, ist ein ganz richti-