Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 123-125 217
ger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Af-
fect macht (mehr oder weniger) blind. - Daß gleich wohl die Natur in uns die
Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe
die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen,
nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen
(sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung
beizufügen. Denn übrigens ist Affect, für sich allein betrachtet, jederzeit un-
klug; er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen, und es
ist also unweise ihn in sich vorsätzlich entstehen zu lassen" (Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, AA VII, 253 f.; vgl. auch Die Metaphysik der Sitten §§ 34
und 35, AA VI, 456 f.). Hier erklärt Kant das Mitleid zur „indirecten Pflicht". In
seiner späten Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum nimmt N. noch-
mals die Mitleidsproblematik auf: KSA 6, 173, 1-5; hierzu und zu N.s Rückgriff
auf Kuno Fischers Kant-Darstellung vgl. Andreas Urs Sommer in NK 6/2. Die
Erwähnung von Schopenhauers Kritik an Kants Ausführungen zum Mitleid
(„die Kantische Abgeschmacktheit") bezieht sich auf den Band Aus Arthur
Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß (Schopenhauer 1864, 333). In der
Fröhlichen Wissenschaft 338 setzt sich N. am ausführlichsten mit der zentralen
Funktion des Mitleids in Schopenhauers Moral-Theorie auseinander.
133
125, 8 „Nicht mehr an sich denken."] In diesem Text folgt N. wieder
der Entlarvungsstrategie La Rochefoucaulds, dem zufolge jeder - scheinbare -
Altruismus in Wahrheit ein kaschierter Egoismus ist. Doch gibt N. diesem Inter-
pretationsschema insofern eine neue Wendung, als er nicht, wie La Rochefou-
cauld, von Heuchelei, also von einer bewussten Operation spricht, sondern ein
unbewusst ichbezogenes Verhalten und Handeln annimmt. Mehrmals hebt er
dieses Moment des Unbewussten ausdrücklich hervor (125, 18-22). Damit ver-
sucht er das Mitleid als ein nur vermeintlich auf den Anderen bezogenes Füh-
len und Handeln zu interpretieren und so die Vorstellung des Mit-Leidens
selbst als irrtümlich zu erweisen. N. führt eine ganze Reihe unbewusst ichbezo-
gener Motive an (125, 32-126, 27), welche scheinbar altruistische Gefühle und
Handlungen bestimmen können. Wie schon in M 129 geht er von einer Mehr-
zahl unbewusster Motive aus, die unentwirrbar zusammenwirken und dabei
sogar in Gegensatz oder in Konkurrenz zueinander treten können - in M 129
spricht er vom „Kampf der [unbewussten] Motive" (118, 15; vgl. den Kommen-
tar), hier in M 133 erwägt er Gegensätze wie das „eigne Leid", das wir mit
einer mitleidigen Handlung von uns „abthun" wollen (126, 12-14), andererseits
ger und erhabener moralischer Grundsatz der stoischen Schule; denn der Af-
fect macht (mehr oder weniger) blind. - Daß gleich wohl die Natur in uns die
Anlage dazu eingepflanzt hat, war Weisheit der Natur, um provisorisch, ehe
die Vernunft noch zu der gehörigen Stärke gelangt ist, den Zügel zu führen,
nämlich den moralischen Triebfedern zum Guten noch die des pathologischen
(sinnlichen) Anreizes, als einstweiliges Surrogat der Vernunft, zur Belebung
beizufügen. Denn übrigens ist Affect, für sich allein betrachtet, jederzeit un-
klug; er macht sich selbst unfähig, seinen eigenen Zweck zu verfolgen, und es
ist also unweise ihn in sich vorsätzlich entstehen zu lassen" (Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht, AA VII, 253 f.; vgl. auch Die Metaphysik der Sitten §§ 34
und 35, AA VI, 456 f.). Hier erklärt Kant das Mitleid zur „indirecten Pflicht". In
seiner späten Schrift Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum nimmt N. noch-
mals die Mitleidsproblematik auf: KSA 6, 173, 1-5; hierzu und zu N.s Rückgriff
auf Kuno Fischers Kant-Darstellung vgl. Andreas Urs Sommer in NK 6/2. Die
Erwähnung von Schopenhauers Kritik an Kants Ausführungen zum Mitleid
(„die Kantische Abgeschmacktheit") bezieht sich auf den Band Aus Arthur
Schopenhauer's handschriftlichem Nachlaß (Schopenhauer 1864, 333). In der
Fröhlichen Wissenschaft 338 setzt sich N. am ausführlichsten mit der zentralen
Funktion des Mitleids in Schopenhauers Moral-Theorie auseinander.
133
125, 8 „Nicht mehr an sich denken."] In diesem Text folgt N. wieder
der Entlarvungsstrategie La Rochefoucaulds, dem zufolge jeder - scheinbare -
Altruismus in Wahrheit ein kaschierter Egoismus ist. Doch gibt N. diesem Inter-
pretationsschema insofern eine neue Wendung, als er nicht, wie La Rochefou-
cauld, von Heuchelei, also von einer bewussten Operation spricht, sondern ein
unbewusst ichbezogenes Verhalten und Handeln annimmt. Mehrmals hebt er
dieses Moment des Unbewussten ausdrücklich hervor (125, 18-22). Damit ver-
sucht er das Mitleid als ein nur vermeintlich auf den Anderen bezogenes Füh-
len und Handeln zu interpretieren und so die Vorstellung des Mit-Leidens
selbst als irrtümlich zu erweisen. N. führt eine ganze Reihe unbewusst ichbezo-
gener Motive an (125, 32-126, 27), welche scheinbar altruistische Gefühle und
Handlungen bestimmen können. Wie schon in M 129 geht er von einer Mehr-
zahl unbewusster Motive aus, die unentwirrbar zusammenwirken und dabei
sogar in Gegensatz oder in Konkurrenz zueinander treten können - in M 129
spricht er vom „Kampf der [unbewussten] Motive" (118, 15; vgl. den Kommen-
tar), hier in M 133 erwägt er Gegensätze wie das „eigne Leid", das wir mit
einer mitleidigen Handlung von uns „abthun" wollen (126, 12-14), andererseits