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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0235
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220 Morgenröthe

ge, zweitausendjährige Tradition, die von Aristoteles und seiner philosophi-
schen Schule, dem Peripatos, ausging, betraf auch die Regulierung der Affekte.
Die peripatetische Strategie orientiert sich an der Nikomachischen Ethik des
Aristoteles, die als „Tugend", d. h. als das zu erstrebende Beste (άρετή) stets
den Mittelwert zwischen den Extremen definiert. Dementsprechend setzten die
Peripatetiker auf die ,Metriopätheia': auf die Mäßigung der Affekte zu einem
Mittelwert hin, der sie weder strikt verneint noch ihnen freien Lauf lässt.
Auch die sog. mittlere Stoa wirkte der strengen Lehre der alten Stoa entge-
gen, wenn auch aufgrund eines ganz anderen Konzepts als der Peripatos.
Durch Ciceros enorme Wirkung sowie durch Kaiser Marc Aurels allerdings erst
seit Beginn der Neuzeit beginnende Rezeption (Selbstgespräche; besser eigent-
lich: Selbstermahnungen: τά εις έαυτόν) wurde dieses Konzept der mittleren
Stoa breit rezipiert. Cicero schloss mit seinen stoisch geprägten Gesprächen in
Tusculum (Tusculanae disputationes) an Panaitios an, der im zweiten Jahrhun-
dert v. Chr. lange Zeit in Rom gelebt hatte; für Marc Aurel wurde ein anderer
Vertreter der mittleren Stoa, der ebenfalls griechisch schreibende Philosoph
Poseidonios, maßgebend. (N. hatte in seiner persönlichen Bibliothek folgende
Übersetzung: Mark Aurel: Selbstgespräche. Uebersetzt und erläutert von C. Cleß
1866; Griechisch-Deutsch: Mark Aurel 1951; vgl. die Edition von Arthur S. L.
Farquharson 1989; immer noch grundlegend: Schmekel 1892 [1974]; die nur
fragmentarisch erhaltenen Grundlagenschriften: Straaten 1962 und Edelstein/
Kidd 1989).
Ciceros skeptische Grundhaltung, mit der er dem Prinzip der Abwägung
nach beiden Seiten, des „in utramque partem disserere" folgt, verrät eine
durch römische Urbanität und durch ein eklektizistisches Verfahren gemilderte
Adaptation stoischer Grundvorstellungen. Durch schwere Schicksalsschläge in
seinen letzten Jahren getroffen, suchte er in der stoischen Philosophie Lebens-
hilfe und Trost und brachte dies in programmatischen Worten seiner Tuscula-
nae disputationes (5, 5) zum Ausdruck. Er bekennt, bei der Philosophie suche
er Zuflucht, von ihr erbitte er Hilfe, ihr ergebe er sich nun ganz: „ad te confugi-
mus, a te opem petimus, tibi nos, ut antea magna ex parte, sic nunc penitus
totosque tradimus". Doch hält er zugleich an Einwänden fest, die er z. T. schon
in seiner Schrift De finibus bonorum et malorum formuliert hatte. So heißt es in
den Tusculanen (2, 42): „Ob nun der Schmerz ein Übel ist oder nicht, darum
sollen sich die Stoiker kümmern, die mit geschraubten und kleinlichen Schluß-
folgerungen, die nicht unsere Empfindungen erreichen, beweisen wollen, daß
der Schmerz kein Übel ist" (sitne igitur malum dolere necne, Stoici viderint,
qui contortulis quibusdam et minutis conclusiunculis nec ad sensus perma-
nantibus effici volunt non esse malum dolorem). Zweitens kritisiert Cicero an
der Lehre der alten Stoa die strenge Beschränkung des höchsten Guts auf die
 
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