Stellenkommentar Zweites Buch, KSA 3, S. 128 221
Tugend (virtus, άρετή): Obwohl die Stoa ein naturgemäßes Leben zu ihrem
Grundsatz mache, vernachlässige sie die Bedürfnisse des Körpers, die auch zur
Natur gehören. Cicero zufolge mied der von ihm adaptierte Philosoph Panaitios
die Herbheit (asperitatem) der älteren stoischen Lehre und lehnte die Härte
ihrer Lehrsätze (acerbitatem sententiarum) sowie die Spitzfindigkeiten ihrer
Argumentation (disserendi spinas) ab (Tusculanae disputationes 4, 79).
Marc Aurel schloss sich zwar an die in der älteren Stoa verankerte zentrale
Vorstellung der Allnatur, der φύσις τών όλων an, deutete sie aber im Sinne
des Poseidonios zu einer kosmologisch begründeten All-Sympathie aus. Diese
„Sympathie" ersetzt das (oft im modernen Sinn dieses Wortes missverstande-
ne) „Apathie"-Ideal der alten Stoa. Marc Aurel psychologisiert die stoische Kos-
mologie hin zu einem Kosmosvertrauen, das Lebenshilfe und Trost vor allem
im Hinblick auf das Sterben vermitteln soll. Als Teil des kosmischen Ganzen
kehrt der Einzelne, so die zentrale Vorstellung, durch seinen Tod nur in dieses
Ganze der Allnatur zurück.
N. verhält sich in seinen zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Stoa
unter ,moralischen' Gesichtspunkten eher kritisch, unter therapeutischen Ge-
sichtspunkten eher zustimmend. Am meisten ähnelt sein eklektisches Verfah-
ren demjenigen Ciceros. Dies gilt auch im Hinblick auf dessen skeptisch relati-
vierende Methode des Abwägens nach beiden Seiten, des „disserere in utram-
que partem". Vgl. auch die Ausführungen zur antiken Skepsis im Kommentar
zu M 82.
135
128, 29 Das Bemitleidetwerden.] Wie schon in früheren Texten der Mor-
genröthe greift N. hier auf ethnologische Schriften zurück, um durch Hinweise
auf das Verhalten der „Wilden" (128, 29) und auf die „Seele des Wilden" (129,
5) seine eigene Ablehnung des Mitleids zu fundieren. Obwohl er in anderen
Texten die Ursprungsideologie, die er in der Geburt der Tragödie noch kultiviert
hatte, kritisch abarbeitet und sogar mehrmals von einem beschämenden Ur-
sprung, von einer „pudenda origo" spricht, orientiert er sich für seine ethnolo-
gischen Beispiele, wie ebenfalls schon in mehreren vorangehenden Texten der
Morgenröthe, an John Lubbocks Werk Die Entstehung der Civilisation und der
Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Le-
ben der Wilden, das er seit 1875 in seiner persönlichen Bibliothek hatte. Dabei
fungieren die früh- und vorzivilisatorischen Zustände für N. als positiv gewer-
tete Belege für das Fehlen von Mitleid: Insofern haben die „Wilden" seine Sym-
pathie.
Tugend (virtus, άρετή): Obwohl die Stoa ein naturgemäßes Leben zu ihrem
Grundsatz mache, vernachlässige sie die Bedürfnisse des Körpers, die auch zur
Natur gehören. Cicero zufolge mied der von ihm adaptierte Philosoph Panaitios
die Herbheit (asperitatem) der älteren stoischen Lehre und lehnte die Härte
ihrer Lehrsätze (acerbitatem sententiarum) sowie die Spitzfindigkeiten ihrer
Argumentation (disserendi spinas) ab (Tusculanae disputationes 4, 79).
Marc Aurel schloss sich zwar an die in der älteren Stoa verankerte zentrale
Vorstellung der Allnatur, der φύσις τών όλων an, deutete sie aber im Sinne
des Poseidonios zu einer kosmologisch begründeten All-Sympathie aus. Diese
„Sympathie" ersetzt das (oft im modernen Sinn dieses Wortes missverstande-
ne) „Apathie"-Ideal der alten Stoa. Marc Aurel psychologisiert die stoische Kos-
mologie hin zu einem Kosmosvertrauen, das Lebenshilfe und Trost vor allem
im Hinblick auf das Sterben vermitteln soll. Als Teil des kosmischen Ganzen
kehrt der Einzelne, so die zentrale Vorstellung, durch seinen Tod nur in dieses
Ganze der Allnatur zurück.
N. verhält sich in seinen zahlreichen Auseinandersetzungen mit der Stoa
unter ,moralischen' Gesichtspunkten eher kritisch, unter therapeutischen Ge-
sichtspunkten eher zustimmend. Am meisten ähnelt sein eklektisches Verfah-
ren demjenigen Ciceros. Dies gilt auch im Hinblick auf dessen skeptisch relati-
vierende Methode des Abwägens nach beiden Seiten, des „disserere in utram-
que partem". Vgl. auch die Ausführungen zur antiken Skepsis im Kommentar
zu M 82.
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128, 29 Das Bemitleidetwerden.] Wie schon in früheren Texten der Mor-
genröthe greift N. hier auf ethnologische Schriften zurück, um durch Hinweise
auf das Verhalten der „Wilden" (128, 29) und auf die „Seele des Wilden" (129,
5) seine eigene Ablehnung des Mitleids zu fundieren. Obwohl er in anderen
Texten die Ursprungsideologie, die er in der Geburt der Tragödie noch kultiviert
hatte, kritisch abarbeitet und sogar mehrmals von einem beschämenden Ur-
sprung, von einer „pudenda origo" spricht, orientiert er sich für seine ethnolo-
gischen Beispiele, wie ebenfalls schon in mehreren vorangehenden Texten der
Morgenröthe, an John Lubbocks Werk Die Entstehung der Civilisation und der
Urzustand des Menschengeschlechtes, erläutert durch das innere und äußere Le-
ben der Wilden, das er seit 1875 in seiner persönlichen Bibliothek hatte. Dabei
fungieren die früh- und vorzivilisatorischen Zustände für N. als positiv gewer-
tete Belege für das Fehlen von Mitleid: Insofern haben die „Wilden" seine Sym-
pathie.