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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0239
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224 Morgenröthe

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133, 2 Mitempfindung.] Mit diesem Stichwort nimmt N. wieder das Thema
„Mitleid" auf. Um dieses als Grundlage der Moral anzufechten, zu der es Scho-
penhauer machte, versucht er nun mittels einer „Theorie der Mitempfindung"
das Mitleid nicht mehr wie im Vorausgehenden mit Argumenten, die sich weit-
gehend an denen des Stoizismus orientieren, in Frage zu stellen. Tendenziell
tiefer bohrend möchte er mit der Hypothese eines dem Mitleid (der „Mitempfin-
dung") zugrunde liegenden ganz anderen „Gefühls" dem Mitleid jegliche au-
thentische Qualität absprechen. Leitmotivisch spricht er in der Anfangspartie
zunächst nur allgemein vom „Gefühl", um dann zu der konkretisierenden These
überzugehen, dass dem Mitleid eigentlich das Gefühl der Furcht zugrunde liege,
es könnte uns ebenso schlecht ergehen wie dem Bemitleideten. Damit wäre das
scheinbar so altruistische Gefühl des Mitleids auf einen in Wahrheit egoisti-
schen Grundtrieb reduziert, was auch die Grundthese von M 143 ist. Dieser An-
satz entspricht wiederum der Generalthese La Rochefoucaulds, aller scheinbare
Altruismus wurzle letztlich in egoistischen Motiven. Mit der Subversion der Mit-
leidsempfindung strebt N. die fundamentale Widerlegung der auf ihr basieren-
den Moral an. Allerdings ist die „Theorie der Mitempfindung", die N. für sich
reklamiert („wie ich sie hier vorschlage"; 135, 9), nicht neu. Schon La Rochefou-
cauld hatte das Mitleid auf die Vorwegnahme der Übel zurückgeführt, die uns
selbst zustoßen könnten. In der Maxime Nr. 264 der Edition von 1678 heißt es:
„La pitie est souvent un sentiment de nos propres maux dans les maux d'autrui;
c'est une habile prevoyance des malheurs oü nous pouvons tomber"; („Das Mit-
leid ist oft ein Gefühl unserer eigenen Übel in den Übeln anderer; es ist eine
behende Voraussicht der Unglücksfälle, in die wir geraten können").
Die Kritik an Schopenhauers Hochschätzung der Unbegreiflichkeit: der
„qualitas occulta" von Kants Kategorischem Imperativ orientiert sich an Paul
Rees strikter Forderung nach dem vom Verstand Erschließbaren und nach dem
in der empirischen Wirklichkeit Nachprüfbaren. Das Schopenhauer-Zitat, das
N. im Zusammenhang dieser Erörterungen bringt (135, 26-32), stammt aus
Schopenhauer 1864, 180. Der Passus: „Man erzählt von einem dänischen Kö-
nig, dass er von der Musik eines Sängers so in kriegerische Begeisterung hi-
neingerissen wurde, dass er aufsprang und fünf Personen seines versammelten
Hofstaates tödtete" (133, 32-134, 2) geht auf das Werk von Eduard Hanslick
zurück: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der
Tonkunst (3. Aufl. Leipzig 1865, 101 f.; Nachweis: Orsucci 1996, 86, Fußnote 82).
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136, 6 Wehe, wenn dieser Trieb erst wüthet!] In M 132 nennt N. die
Fürsprecher der „sympathischen Affection" - N. selbst setzt diesen Ausdruck
 
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