230 Morgenröthe
„egoistisch" (140, 5), an sich problematisch, denn archaische gesellschaftliche
Zustände, etwa bei „Wilden", sind gerade nicht durch einen „egoistischen" In-
dividualismus gekennzeichnet, wie ihn N. propagiert, sondern im Gegenteil
durch Stammesbindungen, Clan-Strukturen und andere Formen kollektiver Da-
seinssicherung bis hin zu kultischen Kollektiv-Fixierungen.
Drittes Buch
Wie schon im Überblickskommentar skizziert wurde, greift N. zwar in mehre-
ren Texten dieses Buches das im Untertitel der Morgenröthe exponierte Thema
der moralischen Vorurteile nochmals auf, doch ist es weit weniger als die ers-
ten beiden Bücher darauf konzentriert. N. versucht diese Schwierigkeit teilwei-
se aufzufangen, indem er den Begriff der Moral, insbesondere den der „Morali-
tät", stark ausweitet. Auch kommt kaum noch substantiell Neues in diesem
Bereich hinzu. N. wiederholt oder variiert das in den ersten beiden Büchern
schon Gesagte, so wenn er wieder von „moralischen Moden" handelt (Μ 174;
vgl. Μ 131 u. ö.) oder wenn er erneut das „Gefühl der Macht" (Μ 189) zu einer
Orientierungsgröße erhebt. Hauptsächlich aber bietet das dritte Buch Apergus
zu verschiedensten Bereichen. Mehrere Texte thematisieren Bildung und Erzie-
hung (Μ 190, M 195), andere konfrontieren deutsche und französische Mentali-
tät (M 192), reden vom Geld (Μ 204), von den Juden (Μ 205), von der Sklaverei,
von der Gesundheit, vom Adel, von der Lage der Arbeiter usw. Auch berührt
N. gelegentlich Themen der traditionellen Moralistik, etwa das von La Roche-
foucauld im Horizont seiner Reflexionen auf die höfische Kultur traktierte
Problem der Schmeichler, der „flatteurs" (bei N.: Μ 158), oder dasjenige der
Eitelkeit (vanite, Nr. 385, Nr. 388, Nr. 389, Nr. 394, Nr. 443; bei N.: Μ 159, M
160). Diese und ähnliche Themen, wie dasjenige des Ehrgeizes oder der (gesell-
schaftlich bedingten) Furcht, behandelt auch N.s Freund Paul Ree, mit dem er
in der Zeit der Morgenröthe intensiven Austausch pflegte. In seinen Schriften
greift Ree - wie schon Schopenhauer - oft ausdrücklich auf die französischen
Moralisten zurück, so dass im Hinblick auf die Quellen kaum zu erkennen ist,
was N. direkt den französischen Moralisten und was er deren Vermittlung
durch Paul Ree oder Schopenhauer verdankt.
Mit dem bunten Gemisch ganz verschiedener Sujets konnte sich N. in der
Tradition der von ihm durchaus goutierten spätantiken ,Buntschriftstellerei'
sehen, mit der er aufgrund seiner Beschäftigung mit der menippeischen Satire
und mit spätantiken Kompilatoren vertraut war (vgl. NK 1/1, 93, 26-31). Dass er
auch die Vorreden zu den Ausgaben von La Rochefoucaulds Reflexions morales
kannte, ist wahrscheinlich. Darin ist von „unterschiedlichen Gegenständen",
von „matieres differentes", die Rede, und es heißt dort abschließend: „Et bien
„egoistisch" (140, 5), an sich problematisch, denn archaische gesellschaftliche
Zustände, etwa bei „Wilden", sind gerade nicht durch einen „egoistischen" In-
dividualismus gekennzeichnet, wie ihn N. propagiert, sondern im Gegenteil
durch Stammesbindungen, Clan-Strukturen und andere Formen kollektiver Da-
seinssicherung bis hin zu kultischen Kollektiv-Fixierungen.
Drittes Buch
Wie schon im Überblickskommentar skizziert wurde, greift N. zwar in mehre-
ren Texten dieses Buches das im Untertitel der Morgenröthe exponierte Thema
der moralischen Vorurteile nochmals auf, doch ist es weit weniger als die ers-
ten beiden Bücher darauf konzentriert. N. versucht diese Schwierigkeit teilwei-
se aufzufangen, indem er den Begriff der Moral, insbesondere den der „Morali-
tät", stark ausweitet. Auch kommt kaum noch substantiell Neues in diesem
Bereich hinzu. N. wiederholt oder variiert das in den ersten beiden Büchern
schon Gesagte, so wenn er wieder von „moralischen Moden" handelt (Μ 174;
vgl. Μ 131 u. ö.) oder wenn er erneut das „Gefühl der Macht" (Μ 189) zu einer
Orientierungsgröße erhebt. Hauptsächlich aber bietet das dritte Buch Apergus
zu verschiedensten Bereichen. Mehrere Texte thematisieren Bildung und Erzie-
hung (Μ 190, M 195), andere konfrontieren deutsche und französische Mentali-
tät (M 192), reden vom Geld (Μ 204), von den Juden (Μ 205), von der Sklaverei,
von der Gesundheit, vom Adel, von der Lage der Arbeiter usw. Auch berührt
N. gelegentlich Themen der traditionellen Moralistik, etwa das von La Roche-
foucauld im Horizont seiner Reflexionen auf die höfische Kultur traktierte
Problem der Schmeichler, der „flatteurs" (bei N.: Μ 158), oder dasjenige der
Eitelkeit (vanite, Nr. 385, Nr. 388, Nr. 389, Nr. 394, Nr. 443; bei N.: Μ 159, M
160). Diese und ähnliche Themen, wie dasjenige des Ehrgeizes oder der (gesell-
schaftlich bedingten) Furcht, behandelt auch N.s Freund Paul Ree, mit dem er
in der Zeit der Morgenröthe intensiven Austausch pflegte. In seinen Schriften
greift Ree - wie schon Schopenhauer - oft ausdrücklich auf die französischen
Moralisten zurück, so dass im Hinblick auf die Quellen kaum zu erkennen ist,
was N. direkt den französischen Moralisten und was er deren Vermittlung
durch Paul Ree oder Schopenhauer verdankt.
Mit dem bunten Gemisch ganz verschiedener Sujets konnte sich N. in der
Tradition der von ihm durchaus goutierten spätantiken ,Buntschriftstellerei'
sehen, mit der er aufgrund seiner Beschäftigung mit der menippeischen Satire
und mit spätantiken Kompilatoren vertraut war (vgl. NK 1/1, 93, 26-31). Dass er
auch die Vorreden zu den Ausgaben von La Rochefoucaulds Reflexions morales
kannte, ist wahrscheinlich. Darin ist von „unterschiedlichen Gegenständen",
von „matieres differentes", die Rede, und es heißt dort abschließend: „Et bien