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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0250
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 144 235

zwischen den Extremen definiert, als das ethisch Richtige. N.s Ausruf am Ende:
„Und wir!" meint das entgegengesetzte Bedürfnis in der Gegenwart: das als
Kompensation interpretierte Verlangen nach dem Übermäßigen. Dies stellt er
explizit, und wieder im Hinblick auf das griechische Ethos des Maßes, in Μ 161
dar: „Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wol-
len, so müssen sie die Schönheit gedunsen, riesenhaft und nervös bilden: so
wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, die Schönheit als Apollo
von Belvedere sahen und bildeten" (145, 25-146, 1).

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144, 17 Cultus der „Naturlaute".] Der „Geist der antiken Philosophie"
(144, 22), den N. gegen den von ihm lediglich behaupteten modernen Kultus
der Naturlaute, an erster Stelle der „Aeusserungen des Schmerzes" (144, 18)
aufruft, ist weniger durch den alsbald angeführten Platon als durch die - nicht
eigens genannte - stoische Philosophie repräsentiert. Platon zielt mit dem in
der Politeia stehenden kritischen Hinweis auf die Philoktet-Tragödie des So-
phokles, der „uns einen Helden darstellt in trauriger Erregung und eine Klage-
rede haltend" (Politeia 605 c-d), auf die von ihm aus erzieherischen Gründen
abgelehnte Dichtung generell und insbesondere auf die tragische Dichtung zu-
gunsten der „Philosophie" (144, 27). Insgesamt ist die Opposition von antiker
Philosophie und „modernem Cultus der ,Naturlaute'" verfehlt, da der elemen-
tare und bis zum Extrem gehende Ausdruck von Gefühlen, insbesondere von
Furcht und Mitleid, aber auch von Schmerzen und Jammer ein Grundzug gera-
de der antiken Tragödie ist und andererseits die „moderne" Philosophie sich
keineswegs dem „Cultus der ,Naturlaute'" zuwendet. Im Hinblick auf die grie-
chische Philosophie lässt sich allenfalls von einer therapeutischen Gegenwen-
dung innerhalb der antiken Kultur sprechen: gegen die in der griechischen Tra-
gödie bis zum Äußersten getriebene Erregung tragischer Leidenschaften und
Gefühlserschütterungen. Doch ließ sich N. zu der Vorstellung eines „modernen
Cultus der ,Naturlaute'" von einem kulturgeschichtlichen Erklärungsmuster
leiten, das ebenfalls aus dem Vergleich mit der antiken Kultur resultiert. Vgl.
hierzu M 156 und NK hierzu sowie M 161. Die stoische Philosophie verfolgt als
originäres Anliegen die Überwindung der Affekte, um ihr Ideal der Gemütsru-
he, der Ataraxie (tranquillitas animi) zu erreichen. Seltsamerweise weist N. im
Hinblick auf die von ihm als Beispiel gewählte Figur des Philoktet nicht auf
deren ganz aus stoischem Geist kommende negative Paradigmatisierung in Ci-
ceros Gesprächen in Tusculum (Tusculanae disputationes) hin, die insgesamt
stoisch geprägt sind. Cicero schreibt: „Man muß beim Schmerz vor allem da-
 
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