Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0258
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 147-148 243

liches sind", erinnert sich N. seiner einst unbedingten Verehrung Wagners, den
er in einem Brief an Erwin Rohde sogar als seinen „Juppiter" bezeichnete (KSB
3/KGB II/1, Nr. 22) und als „Genius" vergötterte. Gleichzeitig tendierte er auch
zu einer unbedingten Schopenhauer-Anhängerschaft, der er sowohl in den
weltanschaulichen Aussagen der Geburt der Tragödie wie in der dritten seiner
Unzeitgemäßen Betrachtungen: Schopenhauer als Erzieher Ausdruck gab. Mit
seiner ersten Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches, an der er
1876 zu arbeiten begann, ging er auf Distanz zu Wagner und Schopenhauer,
und dieser Distanzierungsprozess führte bis zu entschiedenen Absagen. N. ar-
beitete damit die Verehrungs- und „Huldigungs"-Bereitschaft seiner frühen
Jahre ab. Dass er hier in Μ 167 neben Wagner und Schopenhauer auch Bis-
marck als Beispiel unbedingter Huldigungen nennt, ist mit dem weitverbreite-
ten Bismarck-Kult zu erklären, der nach dem Sieg im deutsch-französischen
Krieg von 1870/1871 und der Reichsgründung einsetzte, nachdem Bismarck
schon 1864 und 1866 erfolgreiche Einigungskriege geführt hatte. Von 1871 bis
1890 war Bismarck Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident und Leiter
der deutschen Außenpolitik.
Obwohl Wagner immer wieder seiner Verehrung für Schopenhauer Aus-
druck gab, ihn in seiner Festschrift zu Beethovens hundertstem Geburtstag
1870 sogar als „unseren Philosophen" bezeichnete, Schopenhauers Hochschät-
zung der Musik als der höchsten, ja den metaphysischen Weltgrund unmittel-
bar abbildenden Kunst sich zu eigen machte und auch Schopenhauers pessi-
mistische Weltanschauung adaptierte, nicht zuletzt seine Affinität zu buddhis-
tischen Vorstellungen, hebt N. nicht darauf ab, sondern auf die Distanz
Schopenhauers zu Wagner wie auch auf Bismarcks Fremdheit gegenüber „aller
Wagnerei und Schopenhauerei" (149, 21-23). Die Betonung der Diskrepanzen,
die er vorher sogar in Bismarcks eigener Person diagnostiziert, soll das Vereh-
rungs- und Huldigungsbedürfnis ebenso problematisch erscheinen lassen wie
der auf den Gegensatz zwischen den Wagner-Schwärmern und Wagner-Geg-
nern anspielende „Lärm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Mu-
siker" (149, llf.).
Der schwer nachzuvollziehende und verworrene Gedankengang N.s zielt
aber nicht etwa auf eine Diskreditierung Bismarcks, Wagners oder Schopen-
hauers, sondern auf die Naivität und Unbedingtheit des Verehrungsbedürfnis-
ses der Deutschen. Seiner Hypothese zufolge ist die psychologische Vorausset-
zung „unbedingter Huldigungen" gegenüber dem Verehrten die Vorstellung
von dessen völlig konsistenter - nicht mehrdimensionaler oder gar ambivalen-
ter - Persönlichkeitsstruktur. Dagegen erklärt N. gerade die Inkonsistenz „als
das Rechte und Naturgemässe" (149, 9). Folglich liegt der Fehler, so seine im-
plizite These, nicht bei den fälschlicherweise Verehrten, sondern in der fal-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften