Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0259
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
244 Morgenröthe

sehen Einstellung der Verehrer, die das Unbedingte und Ganzheitliche bewun-
dern wollen und die vor allem unbedingt bewundern wollen. Daher die ironi-
sche Frage: „Was bleibt da zu thun! Wohin sich mit seinem Durste nach der
,Huldigung in Bausch und Bogen' flüchten!" (149, 23-25) Die Deutschen müss-
ten, so die anschließende Antwort, einfach vieles „vergessen" können, was
ihr Huldigungsbedürfnis nötig hat (149, 32 f.). Das „Vergessen" ist jedoch
„schwer" (149, 33). Dies demonstriert N. am Beispiel Manfreds, der Titelfigur
der gleichnamigen Tragödie Lord Byrons, die 1817 erschienen war. Manfred
leidet am Fluch der Erkenntnis, beschwört zu Beginn des Dramas die Geister
und erbittet von ihnen die Gabe des Vergessens. Sie können sie nicht gewäh-
ren. Diese „Erfahrungen" Manfreds sollten sich die Deutschen „zu Nutze" ma-
chen. N. hatte in seiner persönlichen Bibliothek englische und deutsche Ausga-
ben von Byrons Werken (Byron 1864 und Byron 1866), auch die Ausgabe der
von Ernst Ortlepp herausgegebenen Schriften (Byron o.J.).
Statt der problematisierten „unbedingten" Huldigungen empfiehlt N. den
Deutschen abschließend allenfalls „bedingte Zustimmungen" (150, 15) und an-
dererseits auch nicht radikale, sondern „wohlwollende Gegnerschaft" (150, 16),
ja überhaupt nicht die Fixierung auf Personen. Der von ihm zitierte Ausspruch
„Ce qui importe, ce ne sont point les personnes: mais les choses" (150, 20;
„Worauf es ankommt, sind gar nicht Personen, sondern die Sachen") stammt
von Carnot; N. zitiert ihn mit der Namens-Referenz in einem nachgelassenen
Notat (NL 1880/1881, 10[B 32], KSA 9, 419). Mit der abschließenden Bemerkung
über Niebuhrs Hochschätzung Carnots bezieht sich N. auf Niebuhr 1845, Bd. I,
334-339. Der französische Politiker Lazare Nicolas Carnot (1753-1823), den N.
als Beispiel für eine nicht an Personen, sondern an den Sachen orientierte Ein-
stellung und Haltung anführt (150, 22 f.), trug zum Sturz Robespierres bei, ob-
wohl er Republikaner war, und er scheute sich auch nicht, Napoleon zu wider-
sprechen, dessen Kriegsminister er war (vgl. Reinhard 1950-1952). Mit seinem
abschließenden Hinweis auf Niebuhrs Einschätzung: „Niemand habe ihm so
sehr den Eindruck der wahren Grösse gegeben, als Carnot" bezieht sich N. auf
die Bewunderung für Carnot, der Niebuhr in seinen Werken immer wieder Aus-
druck gab. In dem nachgelassenen Notat (NL 1880/1881, 10[B 32], KSA 9, 419,
17-23) heißt es: „Als (nach Victor Hugo) Napoleon perga sous Bonaparte, trat
Carnot mit ihm in den Kampf, er sprach gegen das Consulat auf Lebenszeit er
votirte für die Erhaltung der Republik. 1814 vergaß er das Kaiserthum, um sich
zu erinnern, daß das Vaterland in Gefahr ist. Napoleon sagt: ,Carnot ich habe
Sie zu spät kennengelernt'. ,Niemand hat mir so sehr den Eindruck der wahren
Größe gegeben als Carnot' Niebuhr." Der Historiker Barthold Georg Niebuhr
(1776-1831) gehörte zu den von N. gelesenen Autoren. Ausführlich zitierte und
würdigte er ihn in der Abhandlung Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften