Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0261
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
246 Morgenröthe

von Machtausübung im sog. ,Melierdialog' gewinnt bei Thukydides „allgemei-
ne Bedeutung als ein Stück Physiologie und Pathologie der Macht" (Albin Le-
sky). Zu N. und Thukydides vgl. NK KSA 6, 156, 15-32.
N. überspielt diese Pathologie, die in der bedingungslosen Kapitulation
Athens im Jahre 404 v. Chr. endete, indem er - in einer absurden Verdrehung
der historischen Tatsachen - von einer „Cultur der unbefangensten
Weltkenntniss" spricht, die „zu einem letzten herrlichen Ausblühen" ge-
führt habe (151, 10 f.). Problematisch ist auch die für N. charakteristische Ver-
allgemeinerung, mit der er unter dem Begriff der „Cultur" Verschiedenstes sub-
sumiert. Opak bleibt die Konstatierung von „Weltkenntniss" bei Sophokles,
dem tragischen Dichter (496-406 v. Chr.), der noch das altertümliche Seherwe-
sen verteidigte und wie sein Freund Herodot ein theonomes Weltbild vertrat;
Hippokrates (etwa 460-370 v. Chr.) begründete die auf Empirie und rationaler
Diagnose statt auf religiös-magischen Vorstellungen beruhende wissenschaftli-
che Medizin; Demokrit vertrat eine atomistisch-materialistische Naturerklä-
rung. Allenfalls wären Perikles, der führende athenische Staatsmann (etwa
495-429 v. Chr.), der Athen zu einer von ihm autoritativ geführten Demokratie
machte, sowie Hippokrates und Demokrit (nicht Sophokles) als Repräsentan-
ten eines aufldärerischen Habitus zu bezeichnen. Die alsbald folgende Feststel-
lung, dass „jene Cultur [...] auf den Namen ihrer Lehrer, der Sophisten, ge-
tauft zu werden verdient" (151, 14 f.), ist nur insofern stimmig, als die Sophisten
einen intensiven Lehrbetrieb mit aufklärerischer Tendenz entwickelten. Sie
propagierten ein religionskritisches, anthropozentrisches Denken und traten
für eine praktisch ausgerichtete Bildung ein, in der Argumentationslehre und
Rhetorik eine besondere Rolle spielten. Einige radikale Sophisten, die Platon in
seinen Dialogen angreift, tendierten zu einer alles relativierenden Subversion
moralischer Vorstellungen und zur rhetorischen Manipulation der Menschen:
Sie lehrten, wie man das an sich schwächere Argument zum stärkeren macht
(τόν ήττον λόγον κρείττω ποιεΐν), und behaupteten das Recht des Stärkeren.
Platons Kritik an solchen radikalen Formen der Sophistik hat das spätere
Erscheinungsbild der Sophistik insgesamt negativ gefärbt. Schon Hegel hatte
in seiner Geschichte der Philosophie allerdings ein tieferes Verständnis der So-
phistik und ihrer geschichtlichen Stellung angebahnt. Um die Mitte des
19. Jahrhunderts kamen dann zwei der bedeutendsten Altertumsforscher, deren
Werke N. kannte und sogar in seiner persönlichen Bibliothek hatte, zu einer
geschichtlich adäquaten Einschätzung: der Engländer George Grote und
Eduard Zeller. N. besaß die deutsche Übersetzung des Monumentalwerks von
George Grote: Geschichte Griechenlands (1850-1856); ferner besaß er auch
Eduard Zellers Werk: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung. Erster Theil. Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie (darin
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften