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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0265
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250 Morgenröthe

genen Bauweise und der schweren Wucht ihrer Säulen noch kaum ein klassi-
sches ,Maß'. Trotz des eindrucksvollen Ensembles der drei Tempel gehören sie
andererseits noch nicht zu den monumentalen Riesen-Anlagen. Erst dort, wo
sich größere und auch wirtschaftlich mächtige Handelsstädte wie Athen und
Korinth herausbildeten oder wo, noch später, hellenistische und römische
Herrscher ihre Macht im seiner Eigenständigkeit beraubten Griechenland de-
monstrieren wollten, entstanden sehr große Bauten. Der Tempelbau, der ur-
sprünglich und noch lange Zeit an lokale, regionale, in wenigen Fällen auch
an großräumig ausstrahlende Kultstätten (Delphi, Olympia) gebunden war,
lässt sich nicht spekulativ und psychologisierend mit der „Seele" der „Grie-
chen" erfassen, wie es N. versucht.
Auch spricht N. in problematischer Weise von Athen. Er scheint die Akro-
polis in der archäologischen Literatur kaum angemessen wahrgenommen zu
haben. Dort einen solchen Tempel zu bauen, so großzügig mit reichen figürli-
chen Darstellungen auszugestalten und trotz der vorgegebenen Fixierung auf
den räumlich begrenzten und außerdem steil abfallenden Burgberg einen Ge-
samtprospekt zu wagen, dies hatte nach den siegreich beendeten Perserkrie-
gen Athens neue Machtentfaltung nach außen und die durch demokratische
Reformen sowie durch die kluge Innenpolitik des Perikles bewirkte Polis-Kul-
tur zur historischen Voraussetzung. Nachdem die Perser die alte Akropolis 480
v. Chr. zerstört hatten, verband sich mit der großen neuen Bautätigkeit in den
Jahren 447-432 v. Chr. der Anspruch, gerade eine solche Polis-Kultur auch ar-
chitektonisch zu repräsentieren. Das lässt besonders der Parthenon-Fries er-
kennen, auf den N. schon in der Geburt der Tragödie zu sprechen kommt, be-
zeichnenderweise allerdings mit einer gezielten Missdeutung des politischen
Bild-Programms (vgl. NK 1/1, 34, 17-20 und 34, 20-23). Stereotypisierend und
enthistorisierend reduziert er dort alles auf das „Apollinische" wie hier in der
Morgenröthe auf das „Griechische".
170
152, 12 Andere Perspective des Gefühles.] N. betont in der Morgenrö-
the häufig kulturelle und damit auch ,moralische' Unterschiede, um die An-
nahme einer zeitlos gültigen und mit normativem Anspruch versehenen ,Mo-
ral' zurückzuweisen, wie dies schon griechische Sophisten um 400 n. Chr. ta-
ten. Hier, in M 170, verwendet er den Begriff der „Perspective", den er in seinen
späten Schriften und in den Vorreden zur Neuausgabe seiner Werke (1886 und
1887) zum übergeordneten Konzept eines alles relativierenden ,Perspektivis-
mus' ausweitete. Vor allem durch Winckelmann drang die von N. hervorgeho-
bene „Leidenschaft für die männliche nackte Schönheit" in ihrer Bedeutung
 
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