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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0277
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262 Morgenröthe

lag für N. freilich die Massenbegeisterung bei den Siegesfeiern nach dem Sieg
von 1871. Nachdem er sich zunächst ebenfalls von der patriotischen Welle hatte
mitreißen lassen, ging er bald auf kritische Distanz, die sich indirekt auch im
vorliegenden Text bemerkbar macht. In der folgenden Μ 190 verabscheut er
den „nationalen Wahnsinn" (163, 5) und beklagt den damit einhergehenden
Verlust der „deutschen Bildung".
190
162, 31 Die ehemalige deutsche Bildung.] Zusammen mit Μ 195 („Die
sogenannte classische Erziehung") gehört dieser Text zu den wich-
tigsten Äußerungen N.s über das Bildungs- und Erziehungswesen. Im ersten
Satz bedauert er zwar, dass die Deutschen die ,klassische' Bildung „mit einem
blinden Eifer abgeschüttelt haben" (163, 2f.), dann aber wertet er diese Bil-
dungssphäre der Jahrzehnte um 1800, die er durch Nennung einiger ihrer
Hauptrepräsentanten vergegenwärtigt, entschieden ab. Allerdings trifft der ers-
te seiner kritischen Einwände, der im Horizont seiner übergeordneten Moral-
kritik steht, unter den Genannten nur Schiller (den er später in der Götzen-
Dämmerung als „Moral-Trompeter von Säckingen" verspottet): „die Sucht, um
jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen" (163, 17 f.). Die zweite kritische
Abwertung gilt einem ästhetischen Idealismus, der sich in wirklichkeitsfernen
Abstraktionen verliert: in „glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst
der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles [...] ein weicher,
gutartiger, silbern glitzernder Idealismus" (163, 19-24). Allerdings nennt N. den
ihm wohlbekannten Begründer eines solchen idealistisch formierten Ästheti-
zismus und Klassizismus nicht: Winckelmann, dessen epochemachende
Schrift Über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bild-
hauerkunst bereits 1755, also vor der großen Zeit deutscher „Bildung" erschie-
nen war. N.s Kritik an der Blütezeit von Klassik, Romantik und idealistischer
Philosophie reproduziert die schon von Heine in mehreren - zu N.s Lektüren
gehörenden - Schriften, so in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in
Deutschland vollzogene und dann durch das Junge Deutschland' weiterver-
folgte antiästhetizistische und antiidealistische Wendung. In N.s Gegenwart
verstärkte sie sich im Zeichen des Realismus und des Naturalismus, gegen den
er in der Geburt der Tragödie noch polemisiert hatte.
Dass N. von dem idealistisch-ästhetizistischen „Widerwillen gegen die ,kal-
te' oder ,trockene' Wirklichkeit" (163, 27) handelt und sich dagegen auf „Anato-
mie" (163, 28) und „Naturerkenntnisse" (163, 30) beruft, entspricht der domi-
nierenden Zeitströmung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei sieht
er sich gezwungen, die Einseitigkeiten und Übertreibungen seiner Retrospekti-
 
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