Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 162-164 263
ve auf die „deutsche Bildung" zu kaschieren, indem er die Zentralfigur Goethe
zum außerhalb stehenden bloßen „Zuschauer" macht: „Diesem Treiben der
deutschen Bildung sah Goethe zu" (163, 31 f.) - als ob Goethe nicht auch, und
jahrzehntelang, sowohl in seinen Dichtungen wie in seinen theoretischen Tex-
ten eine klassizistisch-idealistisch formierte Ästhetik vertreten hätte: von sei-
ner Italienischen Reise und der Iphigenie über die von ihm herausgegebene,
programmatisch ,Propyläen' genannte Zeitschrift sowie die Winckelmann-Ge-
denkschrift von 1805 bis hin zum Helena-Akt im Faust II, in dem er diese Epo-
che und seine eigene Stellung in ihr bereits historisch reflektiert. N. lässt sich
von dem Stereotyp bestimmen, dem zufolge Goethe, im Gegensatz zum Idea-
listen' Schiller, ein ,Realist' gewesen ist. Nicht zuletzt: Hätte er Goethe einbezo-
gen, dann hätte er nicht mehr das Fehlen der „Anatomie" und der „Naturer-
kenntniss" in dieser Zeit der „deutschen Bildung" tadeln können, da sich Goe-
the ja intensiv mit Anatomie beschäftigte - ein Resultat seiner anatomischen
Studien ist bekanntlich die Entdeckung des Zwischenkieferknochens - und da
er sich der „Naturerkenntniss" im Bereich der Botanik, der Mineralogie, der
Licht- und Farbentheorie, der Meteorologie u. a. über viele Jahre hinweg zu-
wandte. Zum bloßen Zuschauer macht N. auch Schopenhauer (163, 34-164,
1: „Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu"), obwohl Schopenhauers
Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das 1819, mitten in dieser erst
mit Hegels Tod 1831 und mit Goethes Tod 1832 zu Ende gehenden Epoche
„deutscher Bildung" erschienen war, in vielfältiger Weise mit ihr zusammen-
hängt. Wohl nichts ist aber für das selektiv pointierende Verfahren N.s auf-
schlussreicher als die große Leerstelle: Kant. Er war mit seiner Kritik der Urteils-
kraft ein Wegweiser für Schillers ästhetische Schriften und auch für Goethe
von großer Bedeutung; ebenso wirkte er im Hinblick auf die von einer postula-
torischen „Vernunft" in der Kritik der praktischen Vernunft statuierte ,Moral'
besonders auf Schiller und, neben vielen anderen, auf Schopenhauer. Die Ver-
mutung liegt nahe, dass N. Kant ausließ, weil er mit einer Einbeziehung dieser
epochalen Gestalt seiner pauschalen Abwertung der „deutschen Bildung" den
Boden noch mehr entzogen hätte als mit der Abdrängung Goethes und Scho-
penhauers in den Zuschauerraum.
191
164, 18 Bessere Menschen!] Die einleitenden Worte „Man sagt mir" sind
nicht eindeutig auf bestimmte Personen zu beziehen. Aus dem Duktus dieses
Textes, der „Kunst" und „Künstler" angesichts der „Menschen der Gegenwart"
(164, 20) thematisiert, lässt sich erschließen, dass N. wie schon so oft an Wag-
ner und Schopenhauer denkt und generalisierend auf die „Menschen" seiner
ve auf die „deutsche Bildung" zu kaschieren, indem er die Zentralfigur Goethe
zum außerhalb stehenden bloßen „Zuschauer" macht: „Diesem Treiben der
deutschen Bildung sah Goethe zu" (163, 31 f.) - als ob Goethe nicht auch, und
jahrzehntelang, sowohl in seinen Dichtungen wie in seinen theoretischen Tex-
ten eine klassizistisch-idealistisch formierte Ästhetik vertreten hätte: von sei-
ner Italienischen Reise und der Iphigenie über die von ihm herausgegebene,
programmatisch ,Propyläen' genannte Zeitschrift sowie die Winckelmann-Ge-
denkschrift von 1805 bis hin zum Helena-Akt im Faust II, in dem er diese Epo-
che und seine eigene Stellung in ihr bereits historisch reflektiert. N. lässt sich
von dem Stereotyp bestimmen, dem zufolge Goethe, im Gegensatz zum Idea-
listen' Schiller, ein ,Realist' gewesen ist. Nicht zuletzt: Hätte er Goethe einbezo-
gen, dann hätte er nicht mehr das Fehlen der „Anatomie" und der „Naturer-
kenntniss" in dieser Zeit der „deutschen Bildung" tadeln können, da sich Goe-
the ja intensiv mit Anatomie beschäftigte - ein Resultat seiner anatomischen
Studien ist bekanntlich die Entdeckung des Zwischenkieferknochens - und da
er sich der „Naturerkenntniss" im Bereich der Botanik, der Mineralogie, der
Licht- und Farbentheorie, der Meteorologie u. a. über viele Jahre hinweg zu-
wandte. Zum bloßen Zuschauer macht N. auch Schopenhauer (163, 34-164,
1: „Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu"), obwohl Schopenhauers
Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung, das 1819, mitten in dieser erst
mit Hegels Tod 1831 und mit Goethes Tod 1832 zu Ende gehenden Epoche
„deutscher Bildung" erschienen war, in vielfältiger Weise mit ihr zusammen-
hängt. Wohl nichts ist aber für das selektiv pointierende Verfahren N.s auf-
schlussreicher als die große Leerstelle: Kant. Er war mit seiner Kritik der Urteils-
kraft ein Wegweiser für Schillers ästhetische Schriften und auch für Goethe
von großer Bedeutung; ebenso wirkte er im Hinblick auf die von einer postula-
torischen „Vernunft" in der Kritik der praktischen Vernunft statuierte ,Moral'
besonders auf Schiller und, neben vielen anderen, auf Schopenhauer. Die Ver-
mutung liegt nahe, dass N. Kant ausließ, weil er mit einer Einbeziehung dieser
epochalen Gestalt seiner pauschalen Abwertung der „deutschen Bildung" den
Boden noch mehr entzogen hätte als mit der Abdrängung Goethes und Scho-
penhauers in den Zuschauerraum.
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164, 18 Bessere Menschen!] Die einleitenden Worte „Man sagt mir" sind
nicht eindeutig auf bestimmte Personen zu beziehen. Aus dem Duktus dieses
Textes, der „Kunst" und „Künstler" angesichts der „Menschen der Gegenwart"
(164, 20) thematisiert, lässt sich erschließen, dass N. wie schon so oft an Wag-
ner und Schopenhauer denkt und generalisierend auf die „Menschen" seiner