264 Morgenröthe
Zeit schließt. Wagner war selbst stark von Schopenhauer beeinflusst, und auf
Schopenhauer weist der von N. zitathaft in Anführungszeichen gesetzte „Wille"
(165, 1). In Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ist der
„Wille" der metaphysische Grund des negativ als Sphäre unendlichen Leidens
bestimmten Daseins. Abgesehen vom Ausnahmefall der radikalen Verneinung
des Willens zum Leben durch den Asketen ist für Schopenhauer nur eine vorü-
bergehende Befreiung vom Willen durch den schönen Schein der „Kunst" mög-
lich. Wenn N. im Hinblick auf die Menschen der Gegenwart schreibt, sie führen
ihr „Dasein" „aus einem blinden wüsten ,Willen' heraus, den man verflucht,
weil man ihn nicht zu tödten vermag" (164, 32-165, 2), so geht er von Schopen-
hauer aus, der nach buddhistischem Muster die Ausschaltung der Triebe durch
Askese bis hin zur Selbst-Vernichtung und zum Eingehen ins Nirwana propa-
gierte. Schon N.s einleitender Satz, „unsere Kunst wende sich an die gierigen,
unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegen-
wart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe, Entweltlichung neben dem
Bilde ihrer Wüstheit" (164, 18-22), folgt noch Schopenhauers Theorie von der
kontemplativen Kunstbetrachtung als vorübergehender „Aushängung" des
Willens und ist auf analoge Konstellationen in Wagners Werk hin entworfen,
das mit der Formulierung „unsere Kunst" gemeint ist.
Mit Vorliebe kontrastiert N. in seiner Kulturkritik die antiken Griechen mit
der modernen Gegenwart. Hier und in einer Reihe der folgenden Texte über-
trägt er dieses stereotypisierende Schema auf einen kulturkritisch zugespitzten
Gegensatz zwischen altfranzösischer und moderner Kultur, immer wieder auch
auf den Gegensatz von französischer und deutscher „Cultur" und „Bildung".
Das Paradigma Corneille wählt N. im vorliegenden Text mit einer dezidiert anti-
modernen Tendenz. Die „Bilder ritterlicher Tugenden" (164, 30) hatte Pierre
Corneille (1606-1684) in seinem romantisierenden Heroen-Drama Le Cid vorge-
führt (1636), Vorstellungen „strenger Pflicht, grossmüthiger Aufopferung, hel-
denhafter Bändigung seiner selber" (164, 30 f.) bestimmen besonders die Tra-
gödie Horace (1640) und das ebenfalls in N.s persönlicher Bibliothek vorhande-
ne Märtyrer-Drama Polyeucte. Den Stoff für Horace nahm Corneille aus dem
Bericht im Geschichtswerk des Livius (Ab urbe condita libri 1, 23-27). Corneille
adaptierte die altrömische Vorstellung vom absoluten Vorrang der Staatsräson
gegenüber familiären Bindungen und menschlichen Gefühlen: einen ehernen,
auf das „Vaterland" bezogenen Ehr- und Tugendbegriff. Dies entsprach zu-
gleich der in absolutistischer Weise die Staatsmacht und das Interesse des
Staates über alles setzenden Doktrin des mächtigen Kardinals Richelieu, dem
Corneille das Stück widmete. Darauf spielt N. mit der - von ihm an dieser
Stelle positiv gewerteten - „Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche
Willkür" (165, 4 f.) an und ebenso auf die rigorose Regelvorschrift der ,drei
Einheiten' für das Drama, die Corneille nach der theoretischen Vorgabe von
Zeit schließt. Wagner war selbst stark von Schopenhauer beeinflusst, und auf
Schopenhauer weist der von N. zitathaft in Anführungszeichen gesetzte „Wille"
(165, 1). In Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung ist der
„Wille" der metaphysische Grund des negativ als Sphäre unendlichen Leidens
bestimmten Daseins. Abgesehen vom Ausnahmefall der radikalen Verneinung
des Willens zum Leben durch den Asketen ist für Schopenhauer nur eine vorü-
bergehende Befreiung vom Willen durch den schönen Schein der „Kunst" mög-
lich. Wenn N. im Hinblick auf die Menschen der Gegenwart schreibt, sie führen
ihr „Dasein" „aus einem blinden wüsten ,Willen' heraus, den man verflucht,
weil man ihn nicht zu tödten vermag" (164, 32-165, 2), so geht er von Schopen-
hauer aus, der nach buddhistischem Muster die Ausschaltung der Triebe durch
Askese bis hin zur Selbst-Vernichtung und zum Eingehen ins Nirwana propa-
gierte. Schon N.s einleitender Satz, „unsere Kunst wende sich an die gierigen,
unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegen-
wart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe, Entweltlichung neben dem
Bilde ihrer Wüstheit" (164, 18-22), folgt noch Schopenhauers Theorie von der
kontemplativen Kunstbetrachtung als vorübergehender „Aushängung" des
Willens und ist auf analoge Konstellationen in Wagners Werk hin entworfen,
das mit der Formulierung „unsere Kunst" gemeint ist.
Mit Vorliebe kontrastiert N. in seiner Kulturkritik die antiken Griechen mit
der modernen Gegenwart. Hier und in einer Reihe der folgenden Texte über-
trägt er dieses stereotypisierende Schema auf einen kulturkritisch zugespitzten
Gegensatz zwischen altfranzösischer und moderner Kultur, immer wieder auch
auf den Gegensatz von französischer und deutscher „Cultur" und „Bildung".
Das Paradigma Corneille wählt N. im vorliegenden Text mit einer dezidiert anti-
modernen Tendenz. Die „Bilder ritterlicher Tugenden" (164, 30) hatte Pierre
Corneille (1606-1684) in seinem romantisierenden Heroen-Drama Le Cid vorge-
führt (1636), Vorstellungen „strenger Pflicht, grossmüthiger Aufopferung, hel-
denhafter Bändigung seiner selber" (164, 30 f.) bestimmen besonders die Tra-
gödie Horace (1640) und das ebenfalls in N.s persönlicher Bibliothek vorhande-
ne Märtyrer-Drama Polyeucte. Den Stoff für Horace nahm Corneille aus dem
Bericht im Geschichtswerk des Livius (Ab urbe condita libri 1, 23-27). Corneille
adaptierte die altrömische Vorstellung vom absoluten Vorrang der Staatsräson
gegenüber familiären Bindungen und menschlichen Gefühlen: einen ehernen,
auf das „Vaterland" bezogenen Ehr- und Tugendbegriff. Dies entsprach zu-
gleich der in absolutistischer Weise die Staatsmacht und das Interesse des
Staates über alles setzenden Doktrin des mächtigen Kardinals Richelieu, dem
Corneille das Stück widmete. Darauf spielt N. mit der - von ihm an dieser
Stelle positiv gewerteten - „Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche
Willkür" (165, 4 f.) an und ebenso auf die rigorose Regelvorschrift der ,drei
Einheiten' für das Drama, die Corneille nach der theoretischen Vorgabe von