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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0290
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Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 171 275

Kritik an der aufklärungsfeindlichen Romantik eigene frühere Positionen ab.
Seine Orientierung an Heine, der an den revolutionären Idealen festhielt, reicht
so weit, dass N. trotz seiner vom frühen bis zum späten Werk gleichbleibend
scharfen Ablehnung der Französischen Revolution und der von ihr ausgehen-
den demokratischen und sozialistischen Tendenzen im 19. Jahrhundert nun-
mehr statuiert: „Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Aufklä-
rung, und gegen die Revolution der Gesellschaft" (171, 25 f.).
Implizit führt N. mit seinen aufklärerischen Attacken auf die Romantik und
ihre lange Nachwirkung bei den Deutschen immer auch einen Schlag gegen
Wagners spätromantische Kunstideologie und Musik, so wenn er feststellt:
„Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus' der Vernunft,
und die deutschen Musiker [...] bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als
alle Künstler des Wortes und der Gedanken" (171, 31-172, 3). Wagner wurde in
seiner von N. früher intensiv herangezogenen Hauptschrift Oper und Drama
(1851) nicht müde, immer wieder das „Gefühl" und die von der Musik zu leis-
tende „Gefühlserregung" gegen die „Wissenschaft", die Erkenntnis, die „Ver-
nunft" und das „Logisiren" auszuspielen. Diesen „Cultus des Gefühls", der sei-
ne rauschhafte Steigerung in der Vorstellung des „Dionysischen" fand, setzt N.
in Gegensatz zum historisch bezeugten „Cultus der Vernunft", den die Jacobi-
ner während der Französischen Revolution etablierten - in der Kathedrale No-
tre Dame wurde dieser Kult offiziell inszeniert, wobei eine für ihre Schönheit
berühmte Schauspielerin die Göttin der Vernunft darstellte. Das Kant-Zitat in
172, 11 f.: „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine
Gränzen wies" ist fast wörtlich aus Menschliches, Allzumenschliches (VM 27,
KSA 2, 392, Z. 2-3) übernommen. Kant formuliert anders: „Ich mußte also das
Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen" (Vorrede zur
zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, ΑΑ 3, 19). N. führt diese Stelle
an, um auch Kant noch eine Aufklärungsfeindschaft nachzuweisen. So spricht
er (172, 7-10) von der „allgemeinen Gefahr", unter dem Anschein der
Erkenntnis gerade „die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrü-
cken".
In die programmatische Erklärung: „Diese Aufklärung haben wir jetzt wei-
terzuführen" (172, 25 f.) schließt N. die zur Triebkraft umkodierte „Leidenschaft
des Gefühls" und zugleich der „Erkenntniss" ein. Er knüpft an die sich seit den
1830er Jahren gegen Idealismus, Romantik und Religion formierende radikale
Aufklärung an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschärfte sie sich
noch infolge der neuen soziologischen, ökonomischen und naturwissenschaft-
lichen Theorien, unter denen Darwins Evolutionslehre die größte Sprengkraft
entwickelte. Hierzu und zu N.s und Paul Rees gemeinsamem Interesse an die-
sen neuen Erkenntnissen vgl. den Stellenkommentar zu M 272. Abschließend
 
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