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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0291
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276 Morgenröthe

wertet N. die Aufklärungsbewegung, die sich zur Zeit der Morgenröthe im sog.
Freidenker-Bund organisierte (vgl. NK Μ 20 und NK Μ 164), als eine sich durch-
setzende Grundtendenz des 19. Jahrhunderts, gegenüber welcher ihm der Anta-
gonismus von „Revolution" und „Reaction" (172, 27) als bloß oberflächenhaftes
„Wellenspiel" (172, 29) erscheint.
198
172, 32 Seinem Volke den Rang geben.] N. redet gern vom Adel, vgl.
Μ 201, und hatte selbst ausgeprägte Nobilitierungsphantasien, vgl. NK Μ 199.
Dementsprechend beschäftigte ihn nicht nur in der Morgenröthe, sondern auch
im Spätwerk die Frage, was „vornehm" sei. Ob der französische Adel generell,
wie N. gleich eingangs meint, „grosse innere Erfahrungen" hatte und darauf
mit einem „geistigen Auge" ruhte, ist besonders angesichts der zunehmenden
Verkommenheit des Adels im 18. Jahrhundert eine Spekulation, die ebenso
problematisch ist wie die daraus abgeleitete „Cultur". N., der sich nicht nur
damit begnügte, immer wieder vom „Adel" zu schwärmen, sondern sich darü-
ber hinaus sogar zum Kastenwesen bekannte, konnte in der 1860 erschienenen
Geschichte der französischen Literatur im achtzehnten Jahrhundert von Her-
mann Hettner, die er in seiner persönlichen Bibliothek besaß (NPB 296) und
die auch intensiv die politischen und sozialgeschichtlichen sowie die im enge-
ren Sinn kulturgeschichtlich wichtigen Quellen berücksichtigt, folgende von
Alexis de Tocquevilles berühmter Darstellung L'ancien Regime et la Revolution
(1856) ausgehende Darstellung lesen: „Tocqueville hat sowohl in seiner ,His-
toire philosophique de Louis XV. (Paris 1846)' wie besonders auch in seinem
vortrefflichen Buch ,L'ancien Regime et la Revolution' (Paris 1856) ein sehr an-
schauliches Bild dieser Zustände gegeben. Am verderblichsten wirkte die stren-
ge Sonderung und Selbstsucht der Standesverhältnisse. [...] Je mehr der Adel
aufhörte, eine wirkliche Aristokratie zu bilden, desto übermüthiger gebärdete
er sich als Kaste, wenn anders das Wesen der Kaste darin besteht, ganz aus-
schließlich durch die Geburt bestimmt zu sein.Unter Ludwig XIV. war es für
einen Bürgerlichen leichter Offizier zu werden als unter Ludwig XV. und Lud-
wig XVI. Das gehässigste aller Vorrechte, das Vorrecht der Steuerfreiheit, hat
vom fünfzehnten Jahrhundert bis zur französischen Revolution für den Adel
unablässig zugenommen. Die Adelsverleihungen waren zahlreich, denn die Re-
gierung benutzte sie als Finanzmittel, es gab nicht weniger als viertausend
Aemter, mit welchen unmittelbar der Adel verknüpft war; aber diese Adelsver-
leihungen waren nicht eine Lockerung der Kaste, eine allmähliche und stufen-
weise Vermischung mit dem Bürgertum, sondern nur eine Vermehrung, welche
durch ihre verderbliche Rückwirkung auf die Steuervertheilung für die anderen
 
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