Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 172 277
Volksklassen umso lästiger und verletzender wurde. Und der Bürger seinerseits
strebt nach derselben Ausschließlichkeit. Er ringt nach neuen Vorrechten, wie
der Adel darnach ringt, die alten zu behaupten. Die städtischen Aemter, nicht
aus freier Wahl der Gemeinden oder aus königlicher Ernennung hervorgehend,
sondern zur Füllung des Staatsschatzes meist zu erblichem Besitz verkauft,
liegen in den Händen weniger begüterter Familien, welche die Lasten und Ab-
gaben stets dergestalt zu vertheilen wissen, daß diese immer nur den Aermeren
zufallen [...] Um die ländliche Bevölkerung stand es noch schlimmer. Nach dem
Zeugniß des Engländers Arthur Young, des berühmtesten Landwirthes damali-
ger Zeit, waren zwei Drittel des Bodens im Besitz großer Grundherren, theils
des Adels und der Geistlichkeit, theils der Behörden und Geldmänner; nur das
letzte Drittel gehörte kleineren Eigenthümern. Jene großen Güter waren meist
zu dem entsetzlich hohen Preis der Hälfte des Rohertrags verpachtet, während
zu derselben Zeit in England schon ein Viertel des Rohertrags für einen unge-
bührlichen Pachtschilling galt; die kleineren Güter aber waren in einzelnen
Provinzen, namentlich in Lothringen und in der Champagne, in allzu kleine
Theile zerstückelt, so daß sie nicht einmal den nothdürftigsten Lebensunter-
halt abwarfen. Ein ländlicher Mittelstand fehlte daher gänzlich. Die von allen
Seiten gedrückte und abgesperrte Lage des französischen Bauers wird lebendig
veranschaulicht, wenn Tocqueville (lAncien Regime Buch 2, Cap. 12) mit zahl-
reichen geschichtlichen Belegen unbestreitbar ausführt, daß sie im achtzehn-
ten Jahrhundert eine kläglichere war als im dreizehnten. Ganze Landstrecken
verödeten unbebaut [...] Der Bauer [damals der weitaus größte Teil des Volks]
war die hilflose Beute habsüchtiger Priester, Grundherren und Finanzpächter
[...] In der That, es ist keine schönrednerische Uebertreibung, sondern nur die
thatsächliche Bloßlegung der schaudervollen Wirklichkeit, wenn J. J. Rousseau
in der kleinen, im Jahr 1755 für die Encyklopädie geschriebenen Abhandlung
über politische Oekonomie in die leidenschaftlichen Worte ausbricht: ,Sind
nicht alle Vortheile der Gesellschaft blos für die Mächtigen und Reichen? Fallen
nicht ihnen ausschließlich alle einträglichen Aemter zu, nicht alle Vorrechte
und Steuerbefreiungen? Bleibt nicht ein vornehmer Mann, wenn er seine Gläu-
biger betrügt oder andere Spitzbübereien verübt, fast immer straflos? Sind die
Stockschläge, welche er austheilt, die Gewaltthätigkeiten, die er begeht, ja
selbst seine Verbrechen und Mordthaten nicht lauter Dinge, welche man mit
dem Mantel der christlichen Liebe zudeckt und von denen nach einem halben
Jahre nicht mehr die Rede ist?'." (Hettner 1860, 2. Teil, 117-120) - N.s Rede
davon, dass „in Deutschland [...] der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im
Geiste gehörte" (173, 3 f.), zielt auf den historischen Umstand, dass die deut-
sche Aufklärung von einer dezidiert bürgerlichen Bildungsschicht getragen
wurde. N. prognostiziert allerdings einen Aufschwung des deutschen Adels in
Volksklassen umso lästiger und verletzender wurde. Und der Bürger seinerseits
strebt nach derselben Ausschließlichkeit. Er ringt nach neuen Vorrechten, wie
der Adel darnach ringt, die alten zu behaupten. Die städtischen Aemter, nicht
aus freier Wahl der Gemeinden oder aus königlicher Ernennung hervorgehend,
sondern zur Füllung des Staatsschatzes meist zu erblichem Besitz verkauft,
liegen in den Händen weniger begüterter Familien, welche die Lasten und Ab-
gaben stets dergestalt zu vertheilen wissen, daß diese immer nur den Aermeren
zufallen [...] Um die ländliche Bevölkerung stand es noch schlimmer. Nach dem
Zeugniß des Engländers Arthur Young, des berühmtesten Landwirthes damali-
ger Zeit, waren zwei Drittel des Bodens im Besitz großer Grundherren, theils
des Adels und der Geistlichkeit, theils der Behörden und Geldmänner; nur das
letzte Drittel gehörte kleineren Eigenthümern. Jene großen Güter waren meist
zu dem entsetzlich hohen Preis der Hälfte des Rohertrags verpachtet, während
zu derselben Zeit in England schon ein Viertel des Rohertrags für einen unge-
bührlichen Pachtschilling galt; die kleineren Güter aber waren in einzelnen
Provinzen, namentlich in Lothringen und in der Champagne, in allzu kleine
Theile zerstückelt, so daß sie nicht einmal den nothdürftigsten Lebensunter-
halt abwarfen. Ein ländlicher Mittelstand fehlte daher gänzlich. Die von allen
Seiten gedrückte und abgesperrte Lage des französischen Bauers wird lebendig
veranschaulicht, wenn Tocqueville (lAncien Regime Buch 2, Cap. 12) mit zahl-
reichen geschichtlichen Belegen unbestreitbar ausführt, daß sie im achtzehn-
ten Jahrhundert eine kläglichere war als im dreizehnten. Ganze Landstrecken
verödeten unbebaut [...] Der Bauer [damals der weitaus größte Teil des Volks]
war die hilflose Beute habsüchtiger Priester, Grundherren und Finanzpächter
[...] In der That, es ist keine schönrednerische Uebertreibung, sondern nur die
thatsächliche Bloßlegung der schaudervollen Wirklichkeit, wenn J. J. Rousseau
in der kleinen, im Jahr 1755 für die Encyklopädie geschriebenen Abhandlung
über politische Oekonomie in die leidenschaftlichen Worte ausbricht: ,Sind
nicht alle Vortheile der Gesellschaft blos für die Mächtigen und Reichen? Fallen
nicht ihnen ausschließlich alle einträglichen Aemter zu, nicht alle Vorrechte
und Steuerbefreiungen? Bleibt nicht ein vornehmer Mann, wenn er seine Gläu-
biger betrügt oder andere Spitzbübereien verübt, fast immer straflos? Sind die
Stockschläge, welche er austheilt, die Gewaltthätigkeiten, die er begeht, ja
selbst seine Verbrechen und Mordthaten nicht lauter Dinge, welche man mit
dem Mantel der christlichen Liebe zudeckt und von denen nach einem halben
Jahre nicht mehr die Rede ist?'." (Hettner 1860, 2. Teil, 117-120) - N.s Rede
davon, dass „in Deutschland [...] der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im
Geiste gehörte" (173, 3 f.), zielt auf den historischen Umstand, dass die deut-
sche Aufklärung von einer dezidiert bürgerlichen Bildungsschicht getragen
wurde. N. prognostiziert allerdings einen Aufschwung des deutschen Adels in