304 Morgenröthe
Schaubühne in der auf dem Theater stattfindenden Entfesselung der „Leiden-
schaft" (201, 8), die eine höchste Lebensintensität repräsentiert. „Die Dichter",
so schreibt er, „namentlich Shakespeare", seien „verliebt in die Leidenschaften
an sich" gewesen (201, 18-20). Diesen Kult der Leidenschaft, zu deren Manifes-
tationen auch - nicht moralisch zu bewertende - „grosse Verbrechen" (201, 12)
gehören, die sich „,dämonisch"' gegen alle Vernunft verselbständigen (201, 13-
16), entwirft N. nach dem Muster, das ihm Jacob Burckhardt in seinem Werk
Die Cultur der Renaissance in Italien bot. Auch Stendhal, an dem er sich in
dieser Zeit immer wieder orientierte, inspirierte ihn zu dieser Bewunderung
leidenschaftlichen Lebens. Sie hat kompensatorische Züge, wie schon früher
und dann noch im Spätwerk die Konzeption des „Dionysischen". Zum Thema
„Leidenschaft" vgl. Μ 429 sowie zahlreiche nachgelassene Notate aus der Zeit
der Morgenröthe (in KSA 9: 7[201]; 7[207]; 7[210]; 7[226]; 8[29]; 8[31]; 8[40];
8[43]; 8[50]). In UB IV: Richard Wagner in Bayreuth heißt es bewundernd:
„Beethoven zuerst liess die Musik eine neue Sprache, die bisher verbotene
Sprache der Leidenschaft, reden" (KSA 1, 492, 3-5), und schon zuvor beschei-
nigt N. Wagner die „Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft" (KSA 1, 452,
14). In der polemischen Abrechnung mit Wagner in der Spätschrift Der Fall
Wagner distanziert sich N. allerdings davon: „Vor Allem aber wirft die Lei-
denschaft um. - Verstehen wir uns über die Leidenschaft. Nichts ist wohlfei-
ler als die Leidenschaft! Man kann aller Tugenden des Contrapunktes ent-
rathen, man braucht Nichts gelernt zu haben, - die Leidenschaft kann man
immer!" (KSA 6, 25, 6-10).
241
202, 6 Furcht und Intelligenz.] Dieser Text rekurriert auf die seit dem
18. Jahrhundert breit und kontrovers geführte Diskussion um die Ursache der
verschiedenen Hautfarben des Menschen (vgl. Kant, Forster, Soemmerring,
Blumenbach usw.). N. geht von der Widerlegung der sog. Klimatheorie aus und
führt die verschiedenen Hautfarben in absurd anmutender Weise auf die Affek-
te Wut und Furcht zurück, die er mit unterschiedlichen Zivilisations- und Intel-
ligenzgraden assoziiert.
242
202, 20 Unabhängigkeit.] N. reflektiert hier Unabhängigkeit nicht prag-
matisch als wirtschaftliches oder politisches Ziel, auch nicht im Sinne des tra-
ditionellen philosophischen Autarkie-Ideals (wie in dem aufschlussreichen
Schaubühne in der auf dem Theater stattfindenden Entfesselung der „Leiden-
schaft" (201, 8), die eine höchste Lebensintensität repräsentiert. „Die Dichter",
so schreibt er, „namentlich Shakespeare", seien „verliebt in die Leidenschaften
an sich" gewesen (201, 18-20). Diesen Kult der Leidenschaft, zu deren Manifes-
tationen auch - nicht moralisch zu bewertende - „grosse Verbrechen" (201, 12)
gehören, die sich „,dämonisch"' gegen alle Vernunft verselbständigen (201, 13-
16), entwirft N. nach dem Muster, das ihm Jacob Burckhardt in seinem Werk
Die Cultur der Renaissance in Italien bot. Auch Stendhal, an dem er sich in
dieser Zeit immer wieder orientierte, inspirierte ihn zu dieser Bewunderung
leidenschaftlichen Lebens. Sie hat kompensatorische Züge, wie schon früher
und dann noch im Spätwerk die Konzeption des „Dionysischen". Zum Thema
„Leidenschaft" vgl. Μ 429 sowie zahlreiche nachgelassene Notate aus der Zeit
der Morgenröthe (in KSA 9: 7[201]; 7[207]; 7[210]; 7[226]; 8[29]; 8[31]; 8[40];
8[43]; 8[50]). In UB IV: Richard Wagner in Bayreuth heißt es bewundernd:
„Beethoven zuerst liess die Musik eine neue Sprache, die bisher verbotene
Sprache der Leidenschaft, reden" (KSA 1, 492, 3-5), und schon zuvor beschei-
nigt N. Wagner die „Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft" (KSA 1, 452,
14). In der polemischen Abrechnung mit Wagner in der Spätschrift Der Fall
Wagner distanziert sich N. allerdings davon: „Vor Allem aber wirft die Lei-
denschaft um. - Verstehen wir uns über die Leidenschaft. Nichts ist wohlfei-
ler als die Leidenschaft! Man kann aller Tugenden des Contrapunktes ent-
rathen, man braucht Nichts gelernt zu haben, - die Leidenschaft kann man
immer!" (KSA 6, 25, 6-10).
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202, 6 Furcht und Intelligenz.] Dieser Text rekurriert auf die seit dem
18. Jahrhundert breit und kontrovers geführte Diskussion um die Ursache der
verschiedenen Hautfarben des Menschen (vgl. Kant, Forster, Soemmerring,
Blumenbach usw.). N. geht von der Widerlegung der sog. Klimatheorie aus und
führt die verschiedenen Hautfarben in absurd anmutender Weise auf die Affek-
te Wut und Furcht zurück, die er mit unterschiedlichen Zivilisations- und Intel-
ligenzgraden assoziiert.
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202, 20 Unabhängigkeit.] N. reflektiert hier Unabhängigkeit nicht prag-
matisch als wirtschaftliches oder politisches Ziel, auch nicht im Sinne des tra-
ditionellen philosophischen Autarkie-Ideals (wie in dem aufschlussreichen