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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0344
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 222-224 329

einem anderen Aspekt, im Sinne einer auch sonst oft angewendeten kompen-
satorischen Psychologie, geht Μ 290 auf die Manifestation von „Charakter" ein,
der damit als uneigentlich und substanzlos erscheint. Mit derartigen Erörterun-
gen des Charakterbegriffs widerspricht N. der Lehre vom unveränderlichen
Charakter, die Schopenhauer nachdrücklich vertritt. Vgl. NK M 560. In einem
nachgelassenen Notat vom Herbst 1880 heißt es: „Die Menschen mit der Mas-
ke, die sogenannten Charaktere, die sich nicht schämen, ihre Maske zu
zeigen" (NL 1880, 6[407], KSA 9, 302).
302
223, 14 Einmal, zweimal und dreimal wahr!] Diese rollenhafte Formu-
lierung ironisiert N. als Reflex, der die tagtägliche Lüge, von der alsbald die
Rede ist, durch die hartnäckige, insistierend wiederholte Behauptung des Ge-
genteils, nämlich der Wahrheit, verdrängt. N. versucht immer wieder, durch
solche Redestrategien unbewusste Vorgänge psychologisch ans Licht zu brin-
gen.
303
223, 18 Kurzweil des Menschenkenners.] Wie auch in vielen anderen
Texten der Morgenröthe werden hier zwischenmenschliche Beziehungen auf
Machtverhältnisse reduziert. Deshalb ist von der Furcht vor Erniedrigung die
Rede. Dieser Erniedrigung sucht der Furchtsame durch eine Verhaltensmani-
pulation zu begegnen, um sich über seinen durch das Gefühl der „Überlegen-
heit" gekennzeichneten Gegenpart doch noch zu „erheben". Es handelt sich
nicht um äußere, reale Machtrelationen, sondern um psychisch erfahrene. Dies
entspricht der in der Morgenröthe mehrmals geradezu formelhaft wiederholten
Prägung „Gefühl [!] der Macht". Analoge „Macht"-Konstellationen inszeniert
auch Kafka, etwa in seiner auf die Erfassung psychischer Vorgänge angelegten
frühen Erzählung Beschreibung eines Kampfes und später u. a. in seiner Erzäh-
lung Das Urteil.
304
224, 2 Die Welt-Vernichter.] N. entwickelte ein besonderes Interesse für
Vernichtungs-Phantasien. Gegen Ende seiner letzten, unmittelbar vor dem Zu-
sammenbruch verfassten Schrift Ecce homo gibt er sich einem regelrechten Ver-
nichtungsrausch hin. In dem Kapitel EH ,Warum ich ein Schicksal bin' 2 heißt
 
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