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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0355
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340 Morgenröthe

ben, auf die Jagd nach Erkenntnis ohne „die Liebe zu den Dingen, welche er
erkennt" (232, 18). Indem N. vom „absolut Wehethuenden der Erkennt-
niss" spricht (232, 22 f.), gibt er zu erkennen, dass er die aufklärerische Desillu-
sionierung, welche die Morgenröthe weitgehend bestimmt, auch als ein Ver-
lustgeschehen versteht. „Absinth und Scheidewasser" (232, 23 f.) waren zu N.s
Zeit von selbstzerstörerischen Trinkern benutzte Rauschmittel. Absinth ist in
der zeitgenössischen Herstellung aufgrund der schlechten Alkoholqualität ein
gesundheitgefährdender Thujon-haltiger Branntwein aus Wermut; Scheide-
wasser enthält Salpetersäure und wird zum Trennen einer Gold-Silberlegierung
verwendet.
Stendhal, dessen Schriften N. um 1880 nach Ausweis der nachgelassenen
Notate als eine seiner bevorzugten Lektüren auch im Hinblick auf das Thema
der „Leidenschaft" studierte, stellt im zweiten Buch von De l'amour (im Kapitel
LIX der von N. benutzten Ausgabe: Stendhal 1876) Werther als Paradigma des
leidenschaftlichen Menschen dem Typus des Don Juan gegenüber. Werther
kann aufgrund seiner Leidenschaft die Wirklichkeit nicht angemessen wahr-
nehmen, Don Juan hat zwar Wirklichkeitssinn, ist aber umgekehrt nicht zur
Leidenschaft fähig und eben deshalb auf der permanenten Jagd nach zerstöre-
rischen Liebesabenteuern. Da sich N. in der Morgenröthe und in der Fröhlichen
Wissenschaft zur „Leidenschaft der Erkenntnis" bekennt, ist der „Don Juan der
Erkenntnis" für ihn eine zwar problematische, zugleich aber eine tragische Fi-
gur. In einem nachgelassenen Notat heißt es: „Ihr werdet nicht zu Don Juans
der Erkenntniß, weil ihr nicht Consequenz genug und Charakter habt" (NL
1880, 7[139], KSA 9, 346).
328
233, 2 f. Worauf idealistische Theorien rathen lassen.] Dieses Ver-
hältnis von Theorie und Praxis fand N. in dem von ihm für die Arbeit an der
Morgenröthe intensiv benutzten Handbuch der Moral von Johann Julius Bau-
mann dargestellt. N. traktiert das Thema schon in M 209. Vgl. hierzu den Kom-
mentar mit den Nachweisen aus Baumanns Werk. Indem N. in M 328 auf die
„Engländer" anspielt, meint er die pragmatisch-utilitaristische Ethik, die be-
sonders in England beheimatet war (Bentham, Mill) und dort keineswegs im
Widerspruch gegen „Christlichkeit und Sonntagsheiligung" stand, die N. ana-
log zur „Theorie" sieht.
329
233, 15 Die Verleumder der Heiterkeit.] „Heiterkeit" hatte N. noch aus
ganz anderer Perspektive in der Geburt der Tragödie erörtert, vor allem im Wi-
 
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