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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0370
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 246-248 355

Aufklärung psychologisch vertiefte Entlarvung von Illusionen, die aus der Ge-
fühlssphäre und dort in besonderem Maße aus Liebesgefühlen entstehen. Dies
ist auch ein bevorzugtes Thema Stendhals, mit dem sich N. in dieser Zeit be-
schäftigte. Das paradoxe Ausspielen der Wahrheit gegen die Wahrscheinlich-
keit - und vice versa - ist ein beliebtes erzählerisches Reizmittel, das der ef-
fektvollen Inszenierung des Überraschenden, ja gänzlich Unerwarteten dient.
Kleist exponiert es schon im Titel seiner Anekdote Unwahrscheinliche Wahrhaf-
tigkeiten. Darin stellt der Erzähler in einer einleitenden Reflexion auf sein Er-
zählen fest: „Denn die Leute fordern, als erste Bedingung, von der Wahrheit,
daß sie wahrscheinlich sei; und doch ist die Wahrscheinlichkeit, wie die Erfah-
rung lehrt, nicht immer auf Seiten der Wahrheit". N. verwendet den Begriff der
Wahrheit im Sinne von Faktizität: in der Realität, so heißt es abschließend,
komme die von ihm erzählte „sehr wahrscheinliche Geschichte" nie vor - die
psychologische Wahrscheinlichkeit des Selbstbetrugs durch Festhalten an der
Illusion wider besseres Wissen steht gegen die „Wahrheit".
380
247, 19 Erprobter Rath.] Wie schon im vorhergehenden Text exponiert N.
ein Paradox.

381
247, 24 Seine „Einzelheit" kennen.] N. reflektiert die perspektivisch be-
dingte Differenz von Sein und Schein. Auf der Täuschung durch den Anschein,
der hier durch eine Konzentration auf die Wahrnehmung einer auffallenden
„Einzelheit" zustandekommt, beruht der Reiz der Karikatur, die durch diese Art
von Täuschung eine paradoxale Aufdeckung einer tieferliegenden ,Wahrheit'
ermöglichen kann, wenn sie sich nicht bloß mit grotesker Übertreibung der
„Einzelheit" begnügt. Der „große Schnurrbart", in dessen Schatten der hier
bemühte „Mensch" sitzt, ist derjenige N.s, der dem Publikum oftmals die Philo-
sophie seines Schnurrbarts präsentiert - nicht zuletzt im „Willen zur Macht".
Schon Lukian führte die Philosophenwürde auf große Bärte zurück.

382
248, 6 Gärtner und Garten.] Die wenig geglückte Metaphorik dieses Tex-
tes zielt auf die notwendige Selbstregulation des „Denkers" gegenüber seinen
 
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