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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0385
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370 Morgenröthe

und welche die Forscher zu „Abenteuerern" macht (266, 12 f.), ist ein Haupt-
Aspekt des Leitthemas „Leidenschaft der Erkenntniss". Es setzt sich noch in
der Fröhlichen Wissenschaft fort, dort in FW 107: 464, 31 f.; FW 249: 515, 19.
Der letzte Text der Morgenröthe (Μ 575), stellt es mit dem Bild „Wir Luft-
Schifffahrer des Geistes!" in die Perspektive einer nicht nur ins Unge-
wisse, sondern sogar ins Unendliche gehenden Abenteuer-Lust. Später sieht N.
die Vorstellung des Versuchs zusammen mit derjenigen der „Versuchung" und
des Versuchers. In Jenseits von Gut und Böse (Sechstes Hauptstück: wir Gelehr-
ten, JGB 205) sagt er vom „rechten Philosophen", den er vom Wissenschaftler
und Gelehrten abhebt: er „fühlt die Last und Pflicht zu hundert Versuchen und
Versuchungen des Lebens: - er risquirt sich beständig, er spielt das schlim-
me Spiel." (KSA 5, 133, 11-15). Schon im Zarathustra aber schlägt die schein-
bare experimentelle Offenheit ins Autoritäre um, denn die Versuche haben als
Ziel das Befehlen und den Befehlshaber: „Wer befehlen kann, wer gehorchen
muss - Das wird da versucht! Ach, mit welch langem Suchen und Rathen
und Missrathen und Lernen und Neu-Versuchen! / Die Menschen-Gesellschaft:
die ist ein Versuch, so lehre ich's, - ein langes Suchen: sie sucht aber den
Befehlenden! -" (Zarathustra III: ,Von alten und neuen Tafeln', KSA 4, 265, 17-
21).
Problematisch ist N.s Versuch in M 432, einen Bezug zum übergeordneten
Programm der Morgenröthe, also zum Thema der Moral herzustellen. Denn in-
dem er von der „Moralität" (im Sinne einer Geisteshaltung) der Forscher und
Entdecker spricht, um dann eine im engeren Sinn moralische Wertung aus der
Außenperspektive anzufügen, nämlich dass sie „für böse gelten", erreicht er
„im Ganzen" gerade keine Evidenz, auch wenn es einzelne Beispiele gibt, wie
etwa dasjenige des von der Kirche wegen seiner Entdeckungen verurteilten Ga-
lilei, und auch wenn der frühneuzeitliche Forschungs- und Entdeckungsdrang
in manchen orthodoxen Schriften, z. B. im sog. Voll<sbuch von Doktor Faustus
verteufelt wurde. „Entdecker" und „Schifffahrer" (266, 12), etwa Columbus und
Vasco da Gama, galten keineswegs als „böse". N. denkt letztlich vor allem an
seine eigene Unternehmung: an den Angriff auf die Moral, insbesondere die
christliche, die den Angreifer nach den Maßstäben dieser bisher geltenden
„Moral" als „böse" erscheinen lässt.
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266, 16 Mit neuen Augen sehen.] Indem N. vom „sogenannten Realis-
mus" spricht (266, 21) und sodann zwischen der „Realität" und dem „Wissen
um die Realität" unterscheidet (266, 27 f.), bezieht er sich zunächst auf die
in Literatur und Philosophie dominante zeitgenössische Strömung des Realis-
 
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