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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0386
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Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 266 371

mus. Vgl. hierzu NK 1/1, 84, 33-85, 4 und NK Μ 307. In seinem Erstlingswerk
hatte er, noch ganz erfüllt von spätromantischer Kunstideologie, den Realis-
mus als „unkünstlerisch" abgelehnt und ein idealistisches, ,metaphysisches'
Kunstkonzept vertreten. Mit der Aphorismen-Sammlung Menschliches, Allzu-
menschliches beginnt er sich davon abzuwenden, um sich stattdessen einem
aufklärerisch-rationalen Engagement zu verschreiben, zu dem die desillusio-
nierende Orientierung an der „Wirklichkeit" gehört. In der Morgenröthe setzt
sich diese aufklärerische Tendenz mit dem programmatisch angekündigten
Angriff auf die „moralischen Vorurtheile", ja überhaupt auf die „Moral" als
eine vor der Realität nicht standhaltende Illusion fort.
In dem hier zu erörternden Text aber blickt N. skeptisch auf den Realismus
in der Sphäre der Kunst, weil eine strikte Wirklichkeitsbezogenheit der Kunst
im Sinne einer bloßen „Nachbildung" (266, 17) das Ende der Kunst bedeu-
ten würde. Bereits Heine, dessen Werke N. gut kannte, hatte dieses Problem
aufgeworfen, und auch in Goethes Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre
zeichnet es sich schon ab. Vollends in N.s zeitgenössischem Kontext wird es
intensiv thematisiert. Am eindringlichsten gestaltete Stifter, dessen Roman Der
Nachsommer zu N.s Lieblingslektüren gehörte, die Problematik einer ,realisti-
schen Kunst' in seiner späten Erzählung Nachkommenschaften (1864). Darin
führt er die vom Prinzip eines unbedingten Realismus her notwendige Konse-
quenz vor: das ,Ende der Kunst'. Er erzählt die Geschichte eines jungen Malers,
der ein strikt realistisches Konzept verfolgt. Er wünscht einen Berg „so zu ma-
len, daß man den gemalten und den wirklichen nicht mehr zu unterscheiden
vermöge" (Stifter 2003, Bd. 3/2, 29). Doch selbst an der scheinbar bescheidene-
ren Aufgabe, eine Moorlandschaft realistisch wiederzugeben, scheitert er.
Auch diese Aufgabe steht unter der - vom Erzähler mit einer ironischen Tauto-
logie pointierten - Devise: „die wirkliche Wirklichkeit darstellen". Programma-
tisch ,realistisch' lehnt der junge Maler jedwede verklärende, idealisierende
Aufhöhung des real Vorgegebenen zugunsten eines streng mimetischen Realis-
mus ab. Dieses Programm eines mimetischen Realismus markiert die äußerste
Gegenposition zu einer künstlerischen Genialität, die das Wesentliche ihrem
eigenen schöpferischen Vermögen verdanken will. An die Stelle der Phantasie
tritt die Kopie. Diese aber muss notwendig hinter der äußeren Realität zurück-
bleiben. Ihr fehlt auch die Legitimation, da sie nur Reproduktion ist. Der strikte
Realismus leitet von der Kunst zur Wirklichkeit über, die dann doch immer
noch den Versuchen, sie möglichst vollkommen darzustellen, überlegen bleibt.
Je mehr sich der junge Maler der Wirklichkeit widmet, um sie möglichst getreu
abbilden zu können, desto mehr verbindet er sich mit ihr - so lange, bis er zu
malen aufhört und sich ganz dem realen Leben zuwendet.
Eine ähnliche Entwicklung durchläuft der Protagonist in Gottfried Kellers
Roman Der grüne Heinrich (1. Fassung 1854/55, 2. Fassung 1879/80), für den
 
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